WM-Tagebuch, 14. Juni
Unsere Reise zur Fußball WM beginnt in Helsinki, ganz einfach aus finanziellen Gründen. Die Fluglinien verlangten astronomische Preise für Direktflüge nach St Petersburg und Moskau aber schienen Helsinki übersehen zu haben, von wo aus St Petersburg in 3,5 Stunden mit dem Zug erreichbar ist. Wir waren nicht die einzigen mit dieser guten Idee. Helsinki war ausgebucht, in der Stadt sah man Gruppen von Fans in den verschiedensten Farben, die den gleichen Weg zum Fußball wählten wie wir.
Ich war vorher noch nie in Helsinki, es lag irgendwie nie auf dem Weg, und extra dorthin zu fahren kam mir nie in den Sinn. Eine liebenswürdige Stadt, unaufgeregt und freundlich, mit wenigen hohen Häusern zwischen den eher russisch aussehenden, dreistöckigen Gebäuden, aus denen jederzeit Puschkin oder Bulgakov herauskommen könnten.
Meist blond oder rothaarig, sehen die Frauen in den Lokalen und an der Hotelrezeption einem direkt in die Augen, wenn sie sprechen, sie haben diese Selbstverständlichkeit, als ob sie mit mir verwandt wären. Die Stadt ist voll von Menschen an diesem sonnigen Tag, und niemand scheint zu arbeiten. Alles bewegt sich langsam, ohne Eile, keine unruhigen Männer in dunkelblauen Anzügen hetzen von einer Besprechung zur anderen, und kein Autofahrer hupt nervös, weil jemand bei rot über die Straße geht.
Wir gehen in ein Restaurant am Hafen. In dem modernen Gebäude geht es nach rechts zur Sauna und nach links zum Restaurant, wenn man es von der Straße aus betritt. Wir wollen es echt »finnisch« versuchen und buchen die Sauna vor dem Essen. In einem großen Raum mit einer Glaswand zum Meer sind die Bänke rund um den Ofen, der etwa so groß ist wie in Österreich die ganze Sauna, stufenförmig aufgereiht.
Der sogenannte Aufguss sind zwei Kübel Wasser, nachdem mit einem kompliziertem Mechanismus einer der Gäste den riesigen Deckel über der heissen Kohle gehoben hat. Ein brennheisser Dampf breitet sich aus, und während die anderen mit Ahhh und Ohhh sich ihre nassen Körper reiben, stürzen wir aus der Sauna und springen ins eiskalte Meer, während ein paar Gäste auf der daneben liegenden Terrasse, wo das Mittagessen serviert wird, uns beobachten und laut auflachen.
Eine Studentin, die uns später am Nachmittag den Kaffee in einem der tausenden Cafés serviert, erzählt, sie möchte Lehrerin werden. Ich frage sie, ob es stimme, was ich einst gelesen hatte, dass es in Finnland keine Hausaufgaben gäbe. Sie nickt. Das habe man schon vor langem abgeschafft. Die Kinder würden auch nur wenige Stunden in der Schule verbringen im Vergleich zu anderen Ländern und dennoch sehr gute Resultate bei den internationalen Beurteilungen erzielen. Was sie denn machen würden den ganzen Nachmittag, frage ich sie. Sie lacht und sagt, auf Bäume klettern, im Winter Schlittschuhlaufen und im Herbst Fischen gehen.
Am Nebentisch sitzt eine Gruppe von Marokko–Fans. Ihr erstes Spiel ist gegen Iran in St Petersburg. Ich erzähle ihnen, dass ich ebenfalls Tickets für dieses Spiel hätte. Sie fragen mich, wo ich herkomme. »Aus Österreich«, antworte ich. »Und, zu wem halten Sie?«, fragt mich einer. »Marokko natürlich«, antworte ich schnell, und sie lachen alle. Einer steht auf und reicht mir die Hand und sagt, ich hätte das wahrscheinlich aus reiner Angst hier vor allen anderen gesagt. Nein, antwortete ich ihm, wenn ich Angst hätte, dann höchstens vor Iran.
Plötzlich wird die Gruppe ruhig und sie sehen mich ernst an. Es braucht keine Worte, damit wir uns verstehen. Vor wenigen Wochen hat Marokko den Iranischen Botschafter des Landes verwiesen und seinen aus Teheran zurückgeholt. Zwei Männer gehen an uns vorbei in roten Pullovern mit »Iran« auf dem Rücken. Die Marokkaner warten, bis sie vorbei sind, und beginnen aufgeregt zu sprechen. Mich haben sie vergessen.
Als Österreicher sind wir nicht einmal Beilage bei dieser WM, weit unter der Wahrnehmung. Man reagiert sogar mit Verwunderung, dass einige überhaupt hinfahren. Ein deutscher Fan im Hotel beim Frühstück meint zu seinem Freund laut und deutlich, sodass es jeder hören und jene, die Deutsch sprechen, auch verstehen können , es gehe weniger um Sport, mehr um nationalen Stolz, der eigentlich nur mehr im Sport erlaubt sei. »Was bleibt uns Deutschen sonst noch?«, fragt er seinen Freund, der mit ihm am Tisch sitzt. Der zuckt nur mit den Achseln und sagt dann halblaut, zu mir blickend, da er mich verdächtigt zuzuhören, was soll’s, die Deutschen würden wieder gewinnen und trotzdem könne sie niemand leiden.
Im Zug sitzen zwei Chinesen neben uns. Beide kommen aus Hong Kong und sind etwa 30 und 35 Jahre alt. Hinter uns sitzen ihre Eltern, beide klein, mit verrunzelten Gesichtern und nervösen Augen. Sie machen einen unglücklichen Eindruck. Als einer der Söhne erzählt, man habe die Eltern nach Russland gelockt, um die Fußballspiele zu sehen, erklärt sich der Eindruck. Sie hätten sich eine Europareise gewünscht, erzählt der Ältere. Neben der üblichen Tour über Paris, London und Wien buchten die Söhne jedoch heimlich drei Spiele in Russland, ohne die Eltern zu informieren. Erst in London vor ein paar Tagen hätten sie Ihnen gestanden, dass noch eine Woche Russland zur Reise dazukomme. Beide hätten mit wenig Begeisterung reagiert und seien eigentlich nur in Panik, aus dem Land wieder lebend herauszukommen. »Ich fahr doch nicht von China nach Europa, um dem Land ein paar Wochen zu entfliehen, um dann nach Russland zu fahren«, hätte sich sich der Vater beklagt, erzählt der Jüngere, und beide lachen.
Die russische Reisebegleiterin schiebt den Wagen mit Essen und Getränke durch den Waggon. Groß und schlank mit dunklen Haaren und einem blassen Gesicht, als hätte sie die letzten Monate im Zug verbracht, fragt sie die Reisenden, was sie zu essen wünschten. Der ältere Bruder dreht sich zu seiner Mutter, spricht sie auf Chinesisch an und sagt zur Russin: »Sie nimmt das Lachs Sandwich«. Die Russin knallt der Frau den Plastikteller auf den heruntergeklappten Tisch, und die Frau beginnt zu schreien. »Sie nimmt doch das Beef Sandwich«, korrigiert sich ihr Sohn in Richtung Russin, und sie tauscht die Plastikteller aus. Die Frau beginnt wieder aufgeregt zu sprechen. »Haben Sie Reis?«, fragt der Sohn die Russin, diese schüttelt den Kopf. Die alte Chinesen verschenkt verärgert die Arme und wackelt mit dem Kopf hin und her. Sie weigert sich, irgend etwas zu essen.
Zwischen Helsinki und St Petersburg ändert sich die Landschaft kaum. Links und rechts Wälder, die von Seen unterbrochen werden, an deren Ufern vereinzelt kleine Häuser aus Holz stehen, bunt bemalt in rot, blau oder braun mit einem Steg, der ins Wasser führt. Die weißen Bäume sehen aus wie die Dekoration einer Bühne bei einem Stück von Tschechow.
Wir nähern uns St. Petersburg, wo wir morgen das erste Spiel sehen werden: Marokko gegen Iran.
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