DER MARSCH DER RÜCKKEHR

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Ein Fazit

Man kann sich der Wucht der Bilder schwer entziehen. Junge Araber auf der Flucht vor Tränengas, brennende Reifen, dichte Rauchschwaden, zwei schwarz vermummte Frauen, die neue Reifen ins Feuer tragen, zwei kleine Buben, die Steine in Richtung Grenze werfen, eine junge Soldatin in Kampfmontur, die ihren Blick in eine unsichere Zukunft richtet, ein wütender junger Kämpfer im T-Shirt, der im Kreis seiner Mitstreiter seine meterlange Steinschleuder gegen die israelischen Soldaten auf der anderen Seite der Grenze abfeuert.

Keine 100 Kilometer davon entfernt enthüllt Finanzminister Steve Mnuchin das Schild der neuen US-Botschaft in Jerusalem, und die elegant gekleidete Ivanka Trump spricht strahlend lächelnd ihre Grußworte. »Anderswo: mindestens 50 Palästinenser von Israelischen Streitkräften getötet«, untertitelt die New York Times die Überblendung zu den nächsten Szenen, die offenbar palästinensische Sanitäter bei der Bergung eines Verwundeten zeigen. »Hallelujah«, singt im Gegenschnitt die israelische Sängerin in der US-Botschaft. Im Split-Screen werden Szenen aus Protestmärschen in der Westbank eingespielt.

Das von der New York Times veröffentlichte Video ist repräsentativ für den Tenor der westlichen Berichterstattung: die rechte israelische Regierung feiert ungerührt einen symbolischen Festakt mit den Amerikanern, während sie wenige Kilometer davon entfernt gnadenlos verzweifelte Menschen niederschießen lässt, die friedlich gegen jahrzehntelanges Unrecht protestieren. David gegen Goliath. Nur, dass Goliath gewinnt. Immer.

Empathisch schrieb der geschätzte Thomas Osten-Sacken auf Facebook: »Ich verstehe und sympathisiere zugleich aus vollem Herzen mit Freunden in Israel, die völlig entsetzt sind – einige haben sogar an einer Friedensdemonstration in Tel Aviv teilgenommen, die mir schreiben, Montag sei der wohl schwärzeste Tage in der israelischen Geschichte gewesen und sie hätten es nicht ertragen, einerseits die Bilder von der Feier in Jerusalem anlässlich der Botschaftseröffnung zu sehen und andererseits die von all den Toten und Verletzten am Gazazaun. Montag sei die finale Bankrotterklärung des Zionismus gewesen, meint ein Freund angesichts der christlich-evangelikalen Prediger, die bei dem Event in Jerusalem sprachen. Israel beschenke sich selbst mit Toten und Verletzten zum Geburtstag, schreibt mir eine Bekannte.«

Hamas-Propaganda

Nun machen 62 Tote und tausende Verletzte den 14. Mai 2018 tatsächlich zu einem schwarzen Tag in der israelischen Geschichte, wenn auch bei weitem nicht zum schwärzesten. Vielmehr war dieser Tag vor allem eines: ein Propaganda-Erfolg der Hamas. Denn die wochenlangen Unruhen in Gaza waren keine Proteste, schon gar keine verhältnismäßig spontanen auf die Eröffnung der US-Botschaft, sondern ein monatelang geplanter, militärisch organisierter Angriff auf die israelische Grenze.

Die Hamas mobilisierte Zehntausende, die sie gegen die Grenze hetzte. Teils zwang sie Familien zum Grenzzaun, teils bot sie ihnen Bargeld für die Beteiligung an den Protesten. Die Washington Post berichtete, dass die Menge an einem Sammelpunkt in Gaza City über Lautsprecher dazu aufgefordert wurde, den Zaun zu durchbrechen, man erzählte ihnen, die Israelis würden von ihren Stellungen fliehen, während sie diese in Wahrheit gerade verstärkten.

Wie so oft dienten die aufgehetzten Massen den Kämpfern der Hamas nur als Schutzschild und Kanonenfutter. Voller Stolz zählt der Hamas-Mitbegründer Mahmoud A-Zahhar in einem Interview auf Al-Jazeera die vergangenen Erfolge in den Waffengängen von 2006, 2008, 2012 und 2014 gegen die Israelischen Streitkräfte auf und verwehrt sich gegen die Frage des Reporters, ob man denn nicht Seite an Seite mit der Fatah vorgehen könne, schließlich handle es sich da wie dort um friedlichen Widerstand. Al-Zahhar grenzt sich klar davon ab und besteht darauf, dass die Optionen für den »bewaffneten Kampf« wachsen und sich weiter entwickeln »Wenn wir von friedlichem Widerstand sprechen, täuschen wir die Öffentlichkeit. Das ist ein friedlicher Widerstand, der sich auf eine Militärmacht und Sicherheitsdienste stützt und enorme öffentliche Unterstützung genießt. Wie der ›friedliche Widerstand‹ der Fatah besteht er aus Kundgebungen, Demonstrationen, Protesten, Appellen und Forderungen, um die Bedingungen der Verhandlungen zu verbessern oder Gespräche mit dem israelischen Feind zu ermöglichen. Diese Täuschung führt die Palästinensische Öffentlichkeit nicht in die Irre.«

Sterben für einen Aufmacher

Und so stürmten sie die Grenze, mit Bolzenschneidern, Messern und Pistolen im Gepäck, zündeten tausende Reifen an, um sich im Schutz der Rauchschwaden vor den Scharfschützen der IDF zu verbergen, blendeten die israelischen Soldaten mit Spiegeln und fackelten mit kleinen Brandbomben, die an Flugdrachen befestigt waren, die Felder der israelischen Bauern ab. Sie legten Bomben am Grenzzaun und steckten den Grenzübergang Kerem Shalom in Brand, sodass Lastwagen voller Medikamente und medizinischem Material auf der israelischen Seite feststeckten, während die Ärzte in Gaza nicht mehr wussten, wie sie die Verletzten versorgen sollten. Ihr Ziel: die Grenze zu stürmen und so viele Israelis wie möglich umzubringen. Tote in den eigenen Reihen wurden dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst provoziert. »Wir freuen uns darauf, zu stürmen und hinein zu kommen«, berichtete die Washington Post von einem Interview mit dem 23-jährigem Mohammed Mansoura, der dem Bericht zufolge auf die Frage, was er denn in Israel tun würde, antwortete: »Was immer möglich ist, töten, Steine werfen.«

Die Zivilisten, die Frauen und die Kinder brauchten sie nur als Schutzschilde und zur Tarnung – und vor allem als Aufmacher für die westlichen Medien. Sie ließen sie sterben für eine Schlagzeile. Ein Kalkül, das zynischer und menschenverachtender nicht sein könnte. Und doch ging es auf. Denn wenn es gegen Donald Trump geht, fliegen einem wie von selbst aus aller Welt die Herzen zu, ganz besonders aus Europa. Dabei war die Botschaftsverlegung weder Ursache noch Anlass der Proteste, sondern ein erfolgreiches Rebranding der von langer Hand geplanten Angriffe. Aus dem Sturm auf die Grenze wurde ein Protest gegen Donald Trump und Benjamin Netanjahu: »Ein unterdrücktes Volk gegen eine Allianz von zwei rechtsextremen Regierungen.« Aus der Synchronizität der Ereignisse konstruierte die Hamas erfolgreich eine Kausalität.

Auf ihrer Suche nach der möglichst einfachen Geschichte gingen die Medien der »Split-Screen Täuschung« nur allzu bereitwillig auf den Leim, wie Matti Friedman in der New York Times schreibt. Er erzählt, wie sich Hamas-Kämpfer schon 2008 als Zivilisten getarnt hatten und die Gefallenen als zivile Opfer gezählt wurden. Die Presse spielte dabei mit, schon um das Leben der Reporter nicht aufs Spiel zu setzen, und so wurden die manipulierten Opferzahlen nie berichtigt.

»Die Hamas wusste, dass westliche Nachrichtenagenturen eine einfache Geschichte über Schurken und Opfer wollten und sich an dieses Skript halten würden, sei es aus ideologischer Sympathie, Zwang oder Ignoranz«, berichtet »Der Presse könne vertraut werden, tote Menschen nicht als Opfer jener terroristischen Gruppe darzustellen, die ihr Leben kontrolliert, oder als Opfer eines tragischen Zusammentreffens von Ereignissen, sondern eines ungerechtfertigten israelischen Gemetzels. Die Bereitschaft der Reporter nach diesem Drehbuch mitzuspielen, gab der Hamas den Anreiz, es weiterhin zu nutzen.« So auch am 14. Mai. »Auf der einen Seite eine komplexe menschliche Tragödie in einer Ecke einer Region, die außer Kontrolle gerät. Auf der anderen Seite eine böse und einfache Geschichte, ein Symptom dieser bösen und vereinfachenden Zeiten.«, beschließt Friedman seinen treffenden Befund. In diesen bitterbösen Zeiten verschwimmen die Grenzen zwischen Berichterstattung und Komplizenschaft.

Am Ende: Hoffnung

Eine Woche, nachdem sich die Rauchschwaden verzogen und der Nebel über den Ereignissen gelichtet haben, klärt sich auch der Blick auf das Geschehen. Mindestens 50 der 62 Toten des 14. Mai wurden von der Hamas selbst als deren Kämpfer identifiziert. Trotz mehr als hundert Toten und tausenden Verletzten während der wochenlangen Unruhen: angesichts von Zehntausenden, die gegen die Grenze stürmten, ist die israelische Armee mit größtmöglicher Zurückhaltung vorgegangen. Auch wenn man hierzulande gern mit den unterschiedlichen Opferzahlen der Konfliktparteien den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit untermauert: Eine Armee ist dazu da, die eigene Bevölkerung zu schützen, nicht um für eine ausgewogene Opferbilanz zu sorgen.

Kinley Tur-Paz schildert die Lage in The Times of Israel aus der Sicht der Israelis: »Die IDF stationiert an jedem Konfrontationspunkt Kommandeure, um sicherzustellen, dass jeder Schuss genehmigt und von einer verantwortlichen Person mit entsprechender Autorität abgesichert wird. Jedes Einsatzgebiet verfügt über eine besonders große Anzahl von Truppen, um sicherzustellen, dass Soldaten nicht in lebensbedrohliche Situationen geraten, in denen sie keine Wahl hätten als wahllos zu feuern. Eine Situation, in der Tausende von Menschen auf dich stürzen, ist beängstigend, sogar grauenerregend. Es ist extrem schwierig, Ruhe zu bewahren, und es erfordert Besonnenheit und ausgereifte Professionalität. 55 Tote sind eine enorme Zahl. Aber ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass jedes Geschoss und jeder Treffer in Excel-Tabellen sorgfältig erfasst, dokumentiert und untersucht wird. Buchstäblich jedes und jeder. Ich war dort und ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.« (Deutsche Übersetzung hier)

Trotz des propagandistischen Erfolgs: Militärisch und politisch war »March of Return« eine klare Niederlage für die Hamas. Nirgendwo konnte der Zaun durchbrochen werden. Und am Ende des Tages wurde der Hamas-Führer Ismail Haniyeh vom ägyptischen Geheimdienst nach Kairo »Die Ägypter hätten ihm lautstark vorgeworfen, das Blut der toten Palästinenser vergossen zu haben. Sie zeigten Haniyeh Fotos von Hamas-Aktivisten, wie sie jungen Leuten und Familien zehntausende Dollars zahlten, um am Grenzzaun zu sterben. ›Die Geschichte wird ihnen nicht verzeihen für soviel sinnlose Tote bei den Unruhen‹, wurden die ägyptischen Offiziellen weiter zitiert. Mit der Warnung, dass Israel die Hamas-Spitze ausradieren werde, wurde Haniyeh wieder heimgeschickt.«, fasst Ulrich W. Sahm die Berichte israelischer Medien zusammen. Einen Tag später, ausgerechnet am »Tag der Nakba«, der zum Höhepunkt des Marsches werden hätte sollen, brach dieser sang- und klanglos zusammen.

Hinter all der Gewalt schimmert Hoffnung

Die Hamas hat weniger Rückhalt in Gaza als erwartet. Statt 250.000 wie angekündigt kamen selbst an den stärksten Tagen kaum mehr als 50.000 an die Grenze, und auch von denen zumindest ein Teil nur unter Zwang oder gegen Bezahlung. Die Hamas ist politisch isoliert, außerhalb von Katar und Iran hat sie kaum Verbündete mehr. Wird eine neue Friedensordnung von den arabischen Nachbarstaaten Israels mitgetragen, muss die Hamas sich fügen. Zumal ihre Führer, die in Luxusresorts von Katar Hof halten und sich selbst nie den Lebensumständen aussetzen, die sie zu verantworten haben, die Liquidationsdrohung der Israelis ernst nehmen dürften.

Unter Donald Trump scheint sich ein Paradigmenwechsel in der amerikanischen Nahostpolitik abzuzeichnen. Druck wird nicht mehr nur auf Israel ausgeübt, sondern auch auf die Vertretung der Palästinenser, die sich mit drei Punkten abfinden müssen: 70 Jahre nach seiner Gründung ist der israelische Staat schlicht und einfach Realität, die Juden werden sich niemals ins Meer treiben lassen. Jerusalem wird niemals als Ganzes Hauptstadt eines arabischen Staates werden. Und dass Millionen Araber nach 70 Jahren an einen Ort »zurückkehren«, den sie bestenfalls vom Hörensagen kennen, ist völlig ausgeschlossen.

Je schneller die palästinensische Führung diese Punkte zur Kenntnis nimmt und der eigenen Bevölkerung vermittelt, desto näher ist die Region einer friedlichen Lösung des Konflikts.

Zuerst erschienen auf mena-watch

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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.