Österreichisches Staatsrecht
Nicht nur die Deutschnationalen und die Sozialdemokraten haben den Anschluss propagiert. Auch Hans Kelsen, der Hauptautor der Bundesverfassung, die das kleine Restösterreich vor dem Zerfall bewahrt hat, stand »privat« für ein Großdeutschland unter Einschluss der deutschsprachigen Schweiz ein.
….stärker als der aller Vernunft und Sittlichkeit hohnsprechende Verlauf der jüngsten Geschichte, deren Produkt das heutige (1923) Österreich ist, stärker als Österreich selbst ist sein Wunsch: aufzugehen im deutschen Vaterland. Wohl trennt uns noch ein Abgrund von diesem Ziel; aber auch über diesen Abgrund führt neben beharrlichem Wollen:
Hans Kelsen
G e d u l d. ›Geduld‹, so rief schon in glücklicheren Tagen aus der deutschen Schweiz Konrad Ferdinand Meyer: ›Geduld, es kommt die Zeit, da wird gespannt ein einig Zelt ob allem deutschen Land. Geduld, was langsam reift, das altert spat. Wenn andere welken, werden wir ein e i n S t a a t.‹
Eine mega-großdeutsche Fieberphantasie eines illegalen Nationalsozialisten? Mitnichten! Mit diesen Zeilen beendet Hans Kelsen sein epochales Werk »Österreichisches Staatsrecht, ein Grundriss. Entwicklungsgeschichtlich dargestellt«, Verlag Mohr/Siebek, Tübingen 1923. Dieser Schluss überrascht auch deswegen, da Kelsen auf den vorhergehenden 237 Seiten in großer Nüchternheit und Klarheit das Werden der Republik aus den Wurzeln der Monarchie schildert.
Man erfährt, dass der Kaiser gemäß der Verfassung der »geheiligt (d. h. von Gottes Gnaden), unverletzlich (d. h. nicht durch die Strafjustiz verfolgbar) und unverantwortlich (aufgrund des Gottgnadentums liegt die Verantwortung für das Handeln des Monarchen bei Gott)« gewesen ist. Kelsen führt aus, dass im Interesse des Wiedererkennungswertes alles Brauchbare aus der Verfassung der Monarchie in jene der Republik übernommen worden ist. Er berichtet von starken »zentrifugalen Bewegungen in den Ländern« im Jahr 1920 – es hat die Abspaltung der westlichen (Bundes)länder gedroht. Kelsen spricht von den Konferenzen der Ländervertreter im Februar und April 1920 in Salzburg und Linz, die Druck gemacht haben in Richtung einer Konsolidierung des kleinen Restösterreich durch eine adäquate Staatsverfassung. Die Länderkonferenz in Salzburg gilt als die Geburtsstunde der heutigen »Landeshauptleutekonferenz«, eines bereits 99 Jahre währenden Austriacums – die Landeshauptleutekonferenz ist nirgends, auch nicht in der Staatsverfassung formal verankert, aber dennoch (oder gerade deswegen?) extrem wirkmächtig und langlebig.
Kelsens Werk »Österreichisches Staatsrecht« ist nicht nur ein hoch informatives historisches Dokument von großem aktuellen Informationswert, sondern auch ein Zeugnis der Loyalität seines Verfassers zum Staat, an dessen formaler Konsolidierung er maßgebend beteiligt gewesen ist: Der nüchternen Schilderung der Fakten, die zur Konsolidierung des neuen, kleinen Österreich geführt haben, widmet er 237 Seiten, doch seiner inneren, seiner aus dem Zeitgeschehen heraus verständlichen aber auch emotionalen Option, einem Großdeutschland unter Einschluss auch der deutschsprachigen Schweiz, gewährt er lediglich 12 Zeilen.
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