DAS WEIHNUKKA-DILEMMA

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Ein Weihnachtsbaum zum Chanukka-Fest?

»Wir sollten dieses Jahr Weihnachten feiern!« Edith schob einen zweiten Polster über den einen, auf dem sie während der Nacht schläft, und richtete sich ein wenig auf.

Robert, der neben ihr lag, reagierte nicht. Edith war sicher, dass er sie gehört hatte und sich schlafend stellte.

»Ich weiß, dass du wach bist«, sagte sie und schlug mit der flachen Hand auf seinen Rücken, den er ihr zugewandt hatte.

»He! Warum weckst du mich auf«, sagte Robert und drehte sich murrend, sodass er sie sehen konnte.

»Du hast doch nicht geschlafen, erzähl keine Märchen, und hast mich auch verstanden«, sagte Edith.

»Nein, wirklich, ich hab‘ nichts gehört, hast du etwas gesagt?« Robert grinste und rieb sich die Augen, begann die Arme auszustrecken wie ein Hund die Beine, bevor er das Sofa verlässt.

»Und außerdem feiern wir keine Weihnachten«, sagte Robert plötzlich und lachte.

»Ich wusste, dass du mich gehört hast«, sagte Edith und drehte sich so, dass sie ihn sehen konnte. Sie lagen nun beide nebeneinander wie zwei auf den Längsseiten aufgestellte Ziegelsteine.

»Ich finde das Chanukka, so wie wir es jetzt feiern, einfach lächerlich. Es ist wie eine schlechte Kopie von Weihnachten. Wir verteilen Geschenke wie die Christen am Heiligen Abend, obwohl es unserer Tradition widerspricht. Meine Eltern haben mir nie etwas zu Chanukka geschenkt. Es war das langweiligste Fest aller jüdischen Feste. Und jeden Tag die Kerzen anzünden, immer eine mehr, ging mir nur auf die Nerven, während meine Freundinnen auf Zetteln schrieben, was sie sich vom Weihnachtsmann alles wünschten«, sagte Edith.

Robert seufzte. Er wusste im Moment keine Antwort. Er kam aus einer assimilierten, jüdischen Familie. Sie feierten zu Hause jedes Jahr Weihnachten. Seine Eltern verachteten die Religion. Als er Edith heiratete, die aus einer streng religiösen Familie kam, war es wie ein Eintauchen in eine verlorene Tradition, die er mit seinen Eltern nie erleben konnte. Und jetzt wollte sie plötzlich Weihnachten feiern?

»Du willst also den ganzen Zauber mit Christbaum, weißen Engeln, glitzerndem Engelshaar, goldenen Sternen und Sprühkerzen?« Fragte Robert.

»Na bitte, wie du dich auskennst!« Sagte Edith und lachte. 

»Sicher, damit bin ich aufgewachsen«, antworte Robert, »und ich dachte, das sei nun vorbei, und wir feiern Chanukka mit den Kindern. Wozu haben wir denn jetzt eine jüdische Familie mit all den Traditionen, wenn wir jetzt wieder mit Weihnachten beginnen?«

»Na hör mal«, sagte Edith und setzte sich auf, »ich bin doch nicht dein Schuhlöffel fürs Judentum!«

»So habe ich das doch nicht gemeint. Aber wir haben doch eine Verantwortung gegenüber den beiden Buben!« 

Sagte Robert. Auch er saß nun im Bett und suchte nach einem Polster, um sich zurücklehnen zu können. Es war dunkel im Schlafzimmer. Die Jalousien ließen nur wenig Licht durch. Judith drehte das Licht auf dem kleinen Tisch neben ihrer Seite des Bettes auf. Sie sprachen eine Weile nicht und schienen zu überlegen, wer den nächsten Satz sagen könnte, ohne den anderen zu verletzen.

»Ich dachte das sei dir und deiner Familie wichtig?« Fragte Robert und unterbrach das Schweigen. 

»Du bist meine Familie, und Max und David. Natürlich auch meine Eltern, aber du hast nicht meine Eltern geheiratet, sondern mich. Ich will, dass wir unsere eigenen Entscheidungen treffen und nicht einfach das Leben meiner Eltern fortsetzen.« Ediths Stimme hatte sich plötzlich verändert, tiefer, ruhiger, fast lauernd sprach sie. Es war nicht mehr das heitere Geplänkel frühmorgens im Bett nach dem Aufwachen. Und Robert kannte diese Stimmlage, und verstand sie als Warnung, einfach von der Erfahrung her. Die beiden hatten eben auch ihre Traditionen. 

Seit fünfzehn Jahren waren sie nun verheiratet, Max ging mit seinen zwölf Jahren bereits ins Gymnasium, während der jüngere David letztes Jahr mit der Schule begonnen hatte. Sie hatten einander spät kennengelernt, und der jüngere David war wie ein Geschenk, das keiner mehr erwartet hatte.

»Max und David ist das nicht zuzumuten, dieses Doppelleben. Wir zünden die Kerzen auf der Menora an und verteilen Geschenke, gehen am Wochenende auf den Weihnachtsmarkt und im Radio spielt es Tag und Nacht Weihnachtslieder, und wenn sie ihre Freunde besuchen, sehen sie die bunt geschmückten Wohnungen. Wir leben in keiner jüdischen Umgebung, was ist dann der Unterschied zu Weihnachten. Dann könnten wir ruhig wie alle anderen einen Baum haben. Meinetwegen ohne Engel und nur mit Schokolade«, sagte Edith.

»Ich verstehe dich nicht. Ich dachte immer, es sei dir wichtig, Weihnachten nicht zu feiern, wie dein Vater, der am 24. Dezember mit seinen Freunden ins Café Karten spielen geht!« Sagte Robert. 

»Verdammt noch einmal, ich hab‘ dich doch gebeten, nicht mit meinem Vater zu kommen. Warum fragst du nicht mich, was ich will! Ich kann dir nicht bieten, was du in deiner Jugend versäumt hast. Du fühlst dich um deine Kultur betrogen, weil es nie Chanukka bei euch gab! Glaub mir, ich hab‘ manchmal als Kind vor Verzweiflung geweint, spät abends im Bett, wenn ich an die wunderschönen Bäume in den Wohnungen meiner Freundinnen dachte. Ihre fröhlichen Gesichter, wenn sie mir ihre Geschenke zeigten. Irgendwann habe ich es gehasst, dieses Chanukka. Erst später, als ich älter war, konnte ich es als Tradition meiner Eltern verstehen«, sagte Edith, stieg aus dem Bett, schlüpfte in einen Morgenmantel und drückte auf einen Knopf in der Wand, sodass die Jalousien sich langsam nach oben bewegten und der Raum immer heller wurde. 

Robert, der immer noch im Bett saß, beobachtete sie und sagte plötzlich: »Du, mit deinen langen, blonden Haaren, diesem gleichmäßig schönen Gesicht und der Stupsnase, zu dir passt eigentlich Weihnachten viel besser.«

Edith lachte laut auf, nahm einen Polster und warf ihn auf Robert. Er ergriff ihre Hand, zog sie aufs Bett und umarmte sie. Die Tür ging auf und die beiden Buben stürmten herein. 

»Na vielen Dank euch beiden«, sagte Robert zu ihnen, »so viel zu meinem Morgenvergnügen, egal ob jetzt zu Weihnachten oder Chanukka.«

Max und Robert hatten keine Ahnung wovon der Vater sprach und fragten beide, was es zum Frühstück geben würde.

Doch Edith unterbrach sie und fragte, ob es ihnen Spaß machen würde, nach dem Frühstück auf den Markt zu gehen und einen Weihnachtsbaum zu kaufen.

»Wir bekommen einen Weihnachtsbaum?« Fragte Max erstaunt.

»Warum nicht?« Antwortete Robert.

»Aber wir feiern doch keine Weihnachten, haben wir noch nie gemacht«, sagte Max.

»Wir feiern auch keine, wir wollen nur einen Baum!« Sagte Edith plötzlich lauter und energisch.

»Mit Schokolade?« Fragte David, der bisher ruhig auf dem Boden saß und zuhörte.

»Sicher mit Schokolade, frag doch nicht so blöd, sonst wär‘s ja kein Weihnachtsbaum«, fuhr in Max an. David warf ein kleines Auto, das er in der Hand hielt nach ihm und sagte: »Was weißt du schon von einem Weihnachtsbaum. Ich war gestern bei Erwin in der Wohnung neben uns, der hat einen riesigen Baum mit lauter Schokolade! Wir mussten sogar auf den Sessel steigen, um die Stücke weiter oben zu erreichen!«

»Ok, ok, ich hab‘s verstanden!» Sagte Robert, drückte sich von Edith weg, die neben ihm saß und ein Bein über sein Knie gelegt hatte, stand auf und sagte:

»Wir stehen jetzt auf, ziehen uns an und holen einen Baum, den größten, den wir finden und schleppen ihn hier nach Hause. Dann gehen wir Kerzen kaufen, Sterne, und ganze Schachteln voller Schokolade, die man auf den Baum hängen kann und der Nachmittag ist mit Baumschmücken verplant!«

»Und heute Abend zünden wir die vierte Kerze an, heute bist du an der Reihe, David, und Max kann den Dreidel drehen«, sagte Edith, doch es hörte ihr keiner mehr zu.

»Hurrah, Hurrah«, schrien die beiden Buben und sprangen im Schlafzimmer der Eltern herum.

Plötzlich blieb Max, der ältere der beiden stehen, sah seinen Vater an und fragte:

»Sind wir dann immer noch richtige Juden, wenn wir plötzlich Weihnachten feiern?«

Robert und Edith wurden plötzlich ruhig, nur David sprang immer noch herum und schrie weiter: »Hurrah, Hurra!«         

»Solange du einer sein willst, bist du einer, egal, was du feierst, ob du betest oder nie in eine Synagoge gehst und was alle anderen über dich sagen. Es wird immer deine Entscheidung bleiben!« Sagte Edith bevor Robert noch antworten konnte, und Robert war froh, dass seine Frau darauf reagiert hatte.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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