DAS ENDE DER RELIGIONEN

D

Luther wackelt

500 Jahre ist es fast genau auf den Tag her, dass Luther seine Thesen an die Wittenberger Kirchentür nagelte. Wie alle Jubiläen weckt auch dieses den Verdacht vergangener Größe, verwehender Bedeutung: ein halbes Jahrtausend genügt gewöhnlich, selbst grundstürzenden Ideen den Rang von Allgemeinplätzen zuzuweisen. Das ist bei Martin Luther nicht anders, nur gerät bei genauem Hinschauen gleich das ganze religiöse Gebäude zum Allgemeinplatz.

Vergebung ade

Vor Luther bestimmte den christlichen Glauben ein kirchlich geregelter Kreislauf aus Sünde, Reue und Vergebung. Luther ersann neue Regeln: Weil Sünde unvermeidlich und ehrliche Reue ungewiss sei, dürften Sünden durch die ihrerseits sündige Kirche nicht mehr vergeben werden. Reuige Sünder sollten sich lieber durch den unmittelbaren Kontakt zu Gottes Wort seelisch reinigen – weshalb es allgemein zugänglich zu machen war. Mit der Bibelübersetzung wurde also eine Welle reuiger Selbsthinterfragung und zugleich eine Alphabetisierungswelle angestoßen, die beide ideal zum gerade anbrechenden wissenschaftlichen Zeitalter passten. Das religiöse Dasein geriet dadurch zur selbstkritischen Begleiterscheinung von weltkritischer Bildung und Wissenschaft. Luthers Erfolg wurzelt demnach in einem grundlegenden Wechsel der Perspektive: von untertänigem, botmäßigem Glauben hin zu kritischen, selbstdenkenden Gläubigen.

Inbrünstige Wissenschaft

Nach 500 Jahren religiöser Selbstkritik und kritischer Wissenschaft wirken beide Konzepte, die in Wirklichkeit eins sind, wechselseitig geschwächt. Religiöses Empfinden ist wissenschaftlich unterwandert, wissenschaftliches Denken folgt zunehmend religiösen Impulsen: Die Inbrunst der Klimawissenschaft samt postulierter Weltenrettung duldet keine abweichende Meinung, die Hinterfragung des wissenschaftlichen Übervaters Darwin steht im Geruch der Häresie, die Religiosität erschöpft sich in gesellschaftlicher Anklage und psychologischer Nabelschau.

Zu viel geglaubt

Was ist überhaupt Religiosität? Indem Menschen viel tiefere Zusammenhänge erfühlen, als sie begreifen, liegt es nahe, dunkel geahnte Verkettungen ihres Lebens der Existenz von Göttern zuzuordnen. Man lagert, kurz gesagt, die individuelle Unwissenheit aus und stellt offene Fragen einer Art transzendentalem Allwissen anheim. Mittels religiöser Praktiken versetzt man sich in überindividuelle Schwingungen und betritt archetypische Erlebnisräume, die mit den dunkel geahnten Verkettungen korrelieren. Kommt es hier zum Übersprung, zur Rückkoppelung an die individuelle, bewusste Erlebniswelt – etwa durch erhörte Gebete, wundersame Heilung, Rettung vor Unheil – wird das als Glaubensbeweis gewertet.

Zu kurz gedacht

Angesichts des enormen Wissens, das in den letzten 500 Jahren gewonnen wurde, kann das parallel angestiegene, individuelle Bewusstsein wenig damit anfangen, weiter offene Fragen in metaphysische Räume zu verschieben oder in reuiger Selbstflexion entlang biblischer Texte die eigene Unzulänglichkeit zu beheben. Damit ist alles, worauf Luther religiös gründete und was er darüber hinaus anschob, am Ende. Und da nach wie vor geeignete Antworten fehlen, drohen die Elemente des Wissens, die er den Elementen des Glaubens hinzufügte, am Ende zu scheitern, indem sie sich gegenseitig schwächen, statt an ihr natürliches Ziel zu gelangen: der Verschmelzung von Fühlen und Denken.

Und jetzt?

Kümmern wir uns doch um geeignete Antworten! Lassen wir dazu unser Denken und Fühlen in einen einzigen, nicht geschiedenen Akt münden! Nehmen wir bewussten Bezug zu unserer Fähigkeit, unbewusst wahrzunehmen, ziehen wir unbewusste Wahrnehmungen ins bewusste Kalkül, klären wir Defizite im einseitigen Denken und erhellen das wabernde Dunkel unserer Gefühlslagen! Schärfen wir auf diese Weise unsere Breitenwahrnehmung! Dann wird rasch deutlich, wo Glauben und Wissen sich unheilvoll ineinander verknoten und wo wir ansetzen müssen, um die Spirale des allgemeinen Niedergangs anzuhalten, der letztlich darin besteht, dass wir einem Popanz von gläubiger Wissenschaftlichkeit, von wissenschaftlichen Dogmen anheimfallen und meinen, die Welt retten zu sollen, anstatt sie sachbezogen zu verbessern: Schritt um Schritt! Trauen wir uns und der Natur zu, dass sie sich nicht irrt, wenn sie uns mit Erkenntnissen und Fähigkeiten ausstattet, die mehr sind als religiöses Stochern im Nebel!

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Dann unterstützen Sie bitte jetzt die SCHLAGLICHTER!

Über den Autor / die Autorin

Alexander Gusovius

Alexander Hans Gusovius ist Schriftsteller und Philosoph. Seine Grundüberzeugung: „Nichts geschieht zufällig, ohne deshalb vorherbestimmt zu sein.“ Seine Grundhaltung: „Freiheit ist das höchste Gut von allen.“ Er ist Gründungsmitglied der Künstlergruppe „Schwarzer Hut“ und mit dem Fußball-Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim verbunden. Seine Artikel erschienen bisher in der WeLT, im Schweizer Monat, in MAXIM und in Novo Argumente. Zu seinen Büchern geht es auf www.alexander-gusovius.de.