Vor der Wahl
Schulz 1
Ich erwische mich dabei, dass mir der Martin leidtut. In seiner angestrengt guten Laune, in seinem verzweifelten Ringen um Relevanz, in seinem ungläubig-leeren Blick durch die Brillengläser erinnert er mich an die herzzerreißende Traurigkeit in den Augen jener kindlich Gepeinigten, die in der Schule ausgegrenzt wurden und völlig vergeblich immer wieder um Anerkennung bettelten. Keine Umfrage räumt ihm auch nur den Hauch einer Chance aufs Kanzleramt ein, der SPD-Trend geht noch weiter nach unten. Auch die Partei hat den Martin längst aufgegeben.
Schulz 2
Andererseits tut mir der Martin überhaupt nicht leid. Sich unter dem Motto „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ als zukünftigen Kanzler einer rot-rot-grünen Koalition anzupreisen – denn eine andere Konstellation gibt es für ihn nicht, und auch die verlangt nach Wundergläubigkeit –, ist so ziemlich das Unehrlichste, das die wahlkämpfende Republik seit „Mehr Netto vom Brutto“ erlebt hat. – Was soll „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ eigentlich heißen? Dass der Martin sich mehr Zeit dafür nehmen will? Tja, die wird er bald bekommen. Alle Zeit der Welt sogar…
Gabriel
Denn keiner will den Martin haben, vor der Wahl so wenig wie danach! Allen voran Siegmar Gabriel nicht, der mit jedem Kilo, das er verliert, noch mehr irrlichtert als zuvor. Sein Plan, im Wahlkampf den Martin statt sich selbst als Kandidaten zu verbrennen und statt seiner als Außenminister zu glänzen, bewies zwar gewichtiges politisches Kalkül, war aber trotzdem schlecht berechnet. Bei einer Fortsetzung der großen Koalition, die immer wahrscheinlicher wird, müsste schließlich der Martin Außenminister werden. Und wenn den eben keiner will, was noch wahrscheinlicher ist, könnte Gabriel das Amt nur dann weiter ausüben, wenn Andrea Nahles als neue SPD- und Fraktionsvorsitzende antritt. Aber das wird, das kann… doch nicht sein? Gott bewahre – ist das der perfide Plan? Mutti 2? Stillstand bis ins Jahr 2050 hinein?
Originalmutti
Derweil zieht Originalmutti durch die Lande und Fernsehanstalten und lächelt verständnisvoll alles weg, das uns bis eben noch Sorgen gemacht hat. Sie tröstet und verspricht Heilung, sie wägt ab und verheißt Kontinuität: Alles bleibt, wie es ist, vielleicht sogar besser. Für einen Moment vergisst man die sich ankündigenden schweren politischen Verwerfungen, die bereits eingetretenen schmerzhaften Wandlungen, national wie international. Wie weit die Kanzlerin davon entfernt ist, sie anzupacken oder überhaupt einigermaßen zur Kenntnis zu nehmen, verraten zwei Äußerungen:
Marie-Antoinette
Da ist zum einen der Vorschlag, das durchdrehende Nordkorea mit demselben Erfolgsrezept einzufangen wie den Iran, nämlich mit Verhandlungen übers Atomprogramm – bei denen sich der verhandelnde Westen hat komplett vorführen lassen. Da ist zum zweiten ihre Bemerkung angesichts hochschnellender Vergewaltigungen durch Flüchtlinge, dass es sexuelle Übergriffe immer schon gegeben habe. Der Nachsatz, dass sie unnachgiebig zu verfolgen seien, rettet die Bemerkung nicht davor, ähnlich ignorant vor dem unendlichen Leid der Betroffenen zu sein wie der legendäre Satz Marie-Antoinettes über die hungernde Pariser Bevölkerung: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.“
Politthriller
Der Wahlkampf war langweilig. Umso spannender verspricht der Wahlabend zu sein, nach der Prognose und den ersten Hochrechnungen. Politische Beben, von der wahlkämpfenden Politik ausgespart, von der Bevölkerung auch ohne seismographisches Gespür wahrgenommen, durchlaufen die Republik und werden im letzten Moment aufs Ergebnis durchschlagen. Politische Verzweiflung, wie wir sie selten gesehen haben, wird um sich greifen: Kopfschütteln ohne Ende, Durchhalteparolen, Schuldzuweisungen, hohle Kommentare, unverhohlene Rücktrittsforderungen und gequälte Rücktritte …
Die Demokratie ist derzeit auf einem untersten Level angekommen.
Die Leute lassen sich zu einer billigen Ankreuzveranstaltung einladen.
Sie legen dort Ihren Personalausweis vor der sie als handelsrechtliche Sache und Personal ausweist, kreuzen eine zugelassene Partei an, die immer ihren Interessen zuwider handelt, und geben dann Ihre Stimme für vier Jahre in die Wahlurne, wo diese dann begraben liegt.
[…] https://www.schlaglichter.at/countdown/ […]
Der zitierte Satz der Prinzessin ist in der Tat „legendär“, weil höchstwahrscheinlich in diesem Kontext so nie gesprochen. Interessant, wie gezielt in Umlauf gebrachte Sprachbilder und Stereotypen ihre Wurzeln im Bewußtsein schlagen. Was von den jakobinischen Massenmördern (siehe Vendée) und ihren zeitgenössischen Nachbetern in Schule, Medien und Universitäten über die Bourbonen überliefert wurde, empfehle ich, mit höchster Vorsicht zu genießen und nicht unreflektiert wiederzugeben. Schließlich wurde Marie-Antoinette in ihrem Schauprozess auch unterstellt, sie habe sich an ihren eigenen Kindern vergangen – zur hellen Empörung der antiroyalen Zuschauer. Es gilt also wachsam zu sein, da die Jakobiner genau das Gedankengut aussähten, welche heute in voller Blüte steht…