15 SEKUNDEN

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Photo: Israelis im Luftschutzbunker, IDF (cropped), CC BY-NC 2.0

Die Uhr tickt

15 Sekunden, um Schutz zu suchen. 15 Sekunden zum nächsten Bunker. 15 Sekunden, um beim Abendessen die Kinder zu packen und ins Stiegenhaus zu rennen. 15 Sekunden, um es aus der Dusche in den Schutzraum zu schaffen. 15 Sekunden im Einkaufszentrum, im Park, am Spielplatz, im Kindergarten, beim Arzt. 15 Sekunden haben die Israelis Zeit, sich nach einem Raketen-Alarm in Sicherheit zu bringen. 15 Sekunden, die in unseren Medien so gut wie gar nicht vorkommen.

Am vergangenen Wochenende regnete es innerhalb von 24 Stunden 200 Raketen und Mörsergranaten aus Gaza auf die Einwohner im Süden Israels. Freitag, der 13. Juli, war der Tag mit den schwersten Raketen- und Mörsergranaten-Angriffen aus Gaza seit dem Ende der Operation »Protective Edge« im Jahr 2014. 173 Mal heulten die Sirenen innerhalb eines einzigen Tages. Jedes Mal 15 Sekunden Flucht. Plus 10 Minuten abwarten. Tausende verbrachten die Nächte in Schutzräumen oder Stiegenhäusern. Alte und junge, Frauen und Kinder.

Eine der Raketen landete auf einem Kinderspielplatz, eine andere traf eine Synagoge, glücklicherweise waren beide gerade menschenleer. Vier Mitglieder einer Familie aus Sderot wurden verletzt, als eine Rakete unmittelbar neben ihrem Haus einschlug. Der 52-jährige Familienvater erlitt Verletzungen an Stirn und Beinen, die 45-jährige Mutter verletzte sich an den Beinen, ein 15-jähriges Mädchen an Gesicht, Kopf und Beinen, und ein 14-jähriger altes Mädchen wurde an Gesicht, Beinen und am Hinterkopf verwundet. »Das ganze Glas im Wohnzimmer fiel auf uns. Das Aquarium, die Fernseher – alles explodierte. Das ganze Haus war Rauch und wir waren alle mit Blut bedeckt«, sagte Aharon Buchris, der Vater der Familie, von seinem Krankenhausbett aus.

Dass nicht mehr Verwundete oder gar Tote zu beklagen seien, obwohl die Hamas Millionen von Dollar ausländischer Hilfe für Terrortunnel und Raketen ausgebe, habe einen einzigen Grund, ist in Newsweek zu lesen: weil Israel ein Vielfaches davon in befestigte Luftschutzbunker und fortschrittliche Warnsysteme investiere. 30 Raketen konnten durch den »Iron Dome« abgefangen werden. Und seit Jahren warnt die App »Red Alert« die israelische Bevölkerung in Echtzeit vor Raketeneinschlägen. »Es gibt Gemeinden in Israel, die sind so weit außerhalb, dass sie die Sirenen nicht hören können. Oder jemand steht unter der Dusche: Dann hört er sie auch nicht. Jetzt kann er sein Mobiltelefon mit ins Bad nehmen. … Immer wenn eine Rakete abgefeuert wird, gibt es einen Sirenenalarm in Israel – unabhängig davon, ob die Rakete vor dem Einschlag durch unser Abwehrsystem ‚Iron Dome‘ abgefangen wird. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Jedes Mal, wenn eine Sirene heult, schlägt auch die App Alarm. Manchmal war die App sogar schneller als der Sirenenalarm in den Städten.«, erklärt der Entwickler der App Ari Sprung, dessen Erfindung wohl vielen Israelis das Leben gerettet hat.

Würden sich Journalisten wenigstens die Mühe machen, diese App auf ihrem Smartphone zu installieren und zu verfolgen, würden sie die Raketenangriffe wahrscheinlich nicht als »kleine Nadelstiche« verharmlosen oder so schamlos Täter-Opfer Umkehr betreiben wie Spiegel-Online in einer seiner üblichen Schlagzeilen: »Israel beschießt Gaza – Palästinenser feuern Granaten«. Dass die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) auf den Raketenterror mit einem massiven Angriff auf Stellungen der Hamas antworteten, liest sich im Artikel »Israels Luftwaffe fliegt Angriffe auf Einrichtungen der Hamas im Gazastreifen, gleichzeitig feuern die Palästinenser mit Granaten. Beide Seiten wollen den Gegner zwingen, die Eskalation zu stoppen.« Abgesehen vom irreführenden Begriff »gleichzeitig«, der Ursache und Wirkung ausblendet: wie die Hamas »die Eskalation« mit noch mehr Terror stoppen will, bleibt das Geheimnis ihres Pressesprechers und des SPON-Redakteurs.

Denn »eskaliert« hat die Hamas seit dem »Marsch der Rückkehr« im Mai bereits mehr als genug. Palästinenser aus Gaza legen Brände in Israel, indem sie bei günstigem Wind Flugdrachen und mit Helium gefüllte Ballons, an denen Brandsätze befestigt sind, gegen Israel fliegen lassen. Meist werden Kondome verwendet, sie sind widerstandsfähiger als Luftballons. Einer dieser Ballon-Brandsätze landete kürzlich im Hof eines Kindergartens. Oft wird innerhalb weniger Minuten die Arbeit eines ganzen Jahres abgefackelt. Über 270 gelegte Feuer zerstörten in den letzten Wochen mehr als 2500 Hektar Land, davon 5,5 Quadratkilometer Getreidefelder und ein Wasserreservoir. Das ist mehr als ein Drittel des gesamten an Gaza angrenzenden Landes. Inzwischen befestigen die Terroristen ihre Brandsätze sogar an Vögeln, wie Mayor Arye Sharuz Shalicar auf Facebook zeigt.

»Es gibt eine ganz normale öffentliche Ankündigung und ich springe sofort auf und bin angespannt. Ich habe mich kurz umgeschaut und überlegt, wo wir uns auf den Boden schmeißen können. Das ist unser Leben hier, es dreht sich um sowas«, erzählt Scharon Calderon, die seit 25 Jahren im Kibbuz Sufa lebt, drei Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt. Ihr jüngster Sohn sei 14 Jahre alt, leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung und nehme Medikamente. In den vergangenen Wochen habe sich sein Zustand verschlechtert, sie selbst habe seit zehn Jahren keine einzige Nacht mehr durchgeschlafen. Ein Leben in ständiger Anspannung.

Nur vor diesem Hintergrund versteht man die jüngste Auseinandersetzung zwischen Naftali Bennett, Bildungsminister und Mitglied des neunköpfigen Sicherheitskabinetts, und dem Generalstabschef der Israelischen Streitkräfte Gadi Eizenkot. Bennett forderte, dass die Armee die Gruppen direkt angreifen solle, die Drachen und Ballons in Gaza starten. Dem hielt Eizenkot entgegen, dass viele Drachenwerfer Kinder seien, die Terrorzellen oft inmitten von Massen operierten, und es unmöglich sei, genau jene Personen zu treffen, die an den Starts beteiligt seien. Aus diesen Gründen entsprächen massive Luftangriffe auf Drachenflieger nicht den Werten der IDF und ihrer Kampfdoktrin.

Genau das ist das Dilemma: Auf der einen Seite hat Israel eine Armee, die den ganzen Gaza-Streifen binnen weniger Tage dem Erdboden gleichmachen könnte, auf der anderen steht die Moral des Landes der Ausschöpfung der militärischen Mittel entgegen. Doch wie viele Angriffe kann man der eigenen Bevölkerung zumuten, welche Opfer kann man ihr abverlangen, bevor man die moralischen Bedenken über Bord wirft und sich mit allen Mitteln verteidigt, die einem zur Verfügung stehen? Und wer außer den Israelis selbst könnte sich erlauben, über den einen oder anderen Weg zu urteilen, aus der Geborgenheit des eigenen Wohnzimmers heraus?

Immerhin scheint sich die Hamas des Risikos bewusst zu sein, sich mit jedem Drachen ein Stück des eigenen Grabs zu schaufeln. Dem Vernehmen nach hat die Hamas auf Druck Ägyptens angeordnet, den Terror der Feuerdrachen und Ballons stufenweise zu beenden. Die nächsten Tage werden zeigen, wie ernst es ihr damit ist.

Vorläufig dauern die Angriffe jedenfalls an. Während ich diese Zeilen schreibe, brennt es in den Kibbuzim Nir Yitzhak und Nir Oz. Und in Lachish, nahe Gaza, heulen wieder die Sirenen: 15, 14, 13, 12, 10, …

Zuerst erschienen auf mena-watch

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Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.