Deutschlands Widerstand gegen die Souveränität Marokkos über die Westsahara stärkt den Iran und dessen problematische Verbündete in Westafrika.
Sie kennen die Frage aus der Chaostheorie: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Die Analogie dient als Beispiel dafür, dass selbst die geringfügigsten Veränderungen langfristig unvorhersehbare Folgen haben können. So betrachtet ist Außenpolitik angewandte Chaostheorie: jede noch so kleine Bewegung kann geopolitische Konsequenzen zeitigen, die weder bedacht worden sind noch beabsichtigt waren.
Das könnte auch auf Deutschlands Außenpolitik zutreffen, in einem Punkt, der scheinbar nur eine dünn besiedelte Wüste im Westen Afrikas betrifft, und dennoch Auswirkungen auf die militärische Macht des Iran, auf Europas Verhältnis zu den USA, auf die Migrationsströme von Afrika nach Europa und nicht zuletzt auf Kinder hat, die von der örtlichen Miliz als Soldaten missbraucht werden. Aber der Reihe nach.
Unter Donald Trump haben die Vereinigten Staaten die marokkanische Souveränität über die Westsahara anerkannt. Warum Joe Biden an dieser Entscheidung festhalten sollte, hat Joel C. Rosenberg in All Arab News dargelegt, Mena-Watch hat den Text auf Deutsch veröffentlicht.
Diplomatische Verstimmungen
Deutschland und »die meisten europäischen Partner« kritisieren die Entscheidung der USA und erkennen die Hoheitsgewalt Marokkos nicht an. Ulrich Lechte, Afrika-Berichterstatter der FDP-Fraktion im Bundestag, erklärte gegenüber der Deutschen Welle:
»Deutschland hatte, auch nachdem Trump die Westsahara einseitig als marokkanisches Gebiet anerkannt hat, noch eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates zum Thema Westsahara einberufen. Und das war natürlich nicht im Interesse Marokkos. Marokko hätte es momentan sehr gerne, dass die Europäische Union und Deutschland als einer der stärksten Staaten einfach die Maßnahmen Trumps anerkennt. Wir setzen aber nach wie vor auf den UN-Prozess.«
Marokko ist über Deutschlands Position in der »Westsahara-Frage« mehr als verstimmt, Außenminister Nasser Bourita wollte sogar die diplomatischen Beziehungen aussetzen. In Deutschland betont man indessen die breiten und vielschichtigen Verbindungen zwischen den beiden Ländern und die enge Zusammenarbeit in vielen Feldern.
»Die diplomatischen Beziehungen wurden nicht gekappt. Die Bundesregierung ist auch weiter mit der marokkanischen Regierung im Gespräch. Wir haben die Vorgänge in Marokko zur Kenntnis genommen und Anfang März die marokkanische Botschafterin zu einem dringenden Gespräch mit dem Staatssekretär ins Auswärtige Amt geladen und um Erläuterung gebeten. Aus unserer Sicht gibt es keinen Grund für eine Beeinträchtigung der Beziehungen zwischen Deutschland und Marokko.« Kommentierte ein deutscher Diplomat das aktuelle Verhältnis gegenüber Mena-Watch. Wie die Beschreibung einer engen Beziehung auf Augenhöhe klingt das eher nicht.
Aus Europa gibt es dazu keine aktuelle Erklärung. Ein EU-Sprecher teilte Mena-Watch auf Anfrage mit, dass »unseres Wissens« Marokko derzeit mit keinem anderen Mitgliedstaat eine ähnliche Maßnahme ergriffen habe. Rabat sieht also in Berlin die treibende außenpolitische Kraft der EU in der Westsahara-Frage – wohl zurecht, wie Deutschlands Vorpreschen im UN-Sicherheitsrat zeigt. Möglicherweise unterschätzt Deutschland die geopolitischen Implikationen seiner Haltung.
Die Westsahara: strategisch und wirtschaftlich bedeutend
Die Westsahara mit ihren nicht einmal 600.000 Einwohnern – davon aufgrund massiver Ansiedlungsanreize Marokkos ungefähr doppelt so viele Marokkaner wie gebürtige Sahrauis – zählt zu den am dünnsten besiedelten Gebieten der Welt und besteht hauptsächlich aus flacher Wüste. Dennoch ist sie strategisch und wirtschaftlich von eminenter Bedeutung, wie Stefan Frank in seiner Mena-Watch-Analyse des jüngsten Konflikts zwischen Marokko und der von Algerien unterstützten Polisario-Miliz beschreibt:
„Für Marokko ist die Westsahara das Tor zum Süden, für Algerien wäre es der Zugang zum Atlantik, den es derzeit nicht hat.“
Stefan Frank
Seit Marokko als viertes Land nach den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Sudan den »Abraham Accords« genannten Normalisierungsabkommen mit Israel beigetreten ist, richtet die Weltöffentlichkeit ihren Blick wieder auf die Westsahara-Frage. Den Konflikt nur in diesem Kontext zu betrachten, greift jedoch zu kurz, wie John Hickman, Professor für Politikwissenschaften am Berry College in Georgia (USA) ausführt.
Widersacher Algerien, das flächenmäßig größte Land Afrikas, ist mehr als dreimal so groß wie Marokko ohne die Westsahara. Das nunmehr »marokkanische Sahara« genannte Gebiet vergrößert die Landfläche Marokkos und damit dessen strategische Tiefe um mehr als ein Drittel. Fast noch wichtiger: Mit einer hypothetischen, von der Polisario geführten »Demokratischen Arabischen Republik Sahara« im Süden wäre Marokko mit Ausnahme der winzigen spanischen Exklaven Melilla und Ceuta ausschließlich von feindlichen Staaten umgeben.
Neben den sicherheitspolitischen Interessen geht es um wirtschaftliche. Mit der marokkanischen Sahara verfügt das ansonsten an Bodenschätzen eher arme Marokko über rund 72 Prozent aller weltweit bekannten Phosphat-Vorkommen. Phosphor gehört zu den wichtigsten Bestandteilen moderner Düngemittel. Weitere Bodenschätze des Gebiets sind Eisen, Titan, Vanadium, Zirkonium und Uran, auch Öl- und Gasvorkommen werden vermutet.
Der Fischfang ist eine wichtige Einnahmequelle, hingegen steckt der Tourismus noch in den Kinderschuhen. Voraussetzung für die weitere wirtschaftliche Erschließung des Gebiets ist Sicherheit, nicht nur im physischen Sinn des Wortes. Investitionen brauchen Rechtssicherheit, je höher das politische Risiko, desto höher der Eintrittspreis für Investoren.
Polisario: Korruption und Kindersoldaten
Die »Frente Polisario« (spanische Abkürzung für »Volksfront zur Befreiung von Saguía el-Hamra und Río de Oro«, die beiden Regionen bilden zusammen die Westsahara) gründete sich 1973 zur Zeit der spanischen Besatzung. Nach dem Abzug Spaniens 1975 rief die marxistisch-militärische Organisation im von ihr kontrollierten Teil die »Demokratische Arabische Republik Sahara« (DARS) aus und kämpft seither gegen Marokko um den Anspruch auf die gesamte Westsahara.
Sie setzt sich größtenteils aus einheimischen nomadischen Bewohnern der Region, den Sahrauis, zusammen und wird seit ihrer Gründung von Algerien unterstützt. Das Hauptquartier der Polisario befindet sich im algerischen Grenzort Tindouf, zugleich Sitz der Exilregierung der DARS, und den umgebenden Lagern.
Heute dient die Miliz vor allem ihrer eigenen Bereicherung. Mit Hilfe des Algerischen Roten Halbmonds (Algerian Red Crescent, ARC), der eng mit dem vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes nicht anerkannten »Saharauischen Roten Halbmond« zusammenarbeitet, wird systematisch internationale humanitäre Hilfe veruntreut. Hilfsgüter werden am Schwarzmarkt verkauft, der Erlös geht an Polisario-Kommandeure.
Ein 2015 veröffentlichter Bericht des »Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung« (OLAF) beschreibt detailliert die Veruntreuung von humanitären Hilfen der EU, die für die Lager von Tindouf bestimmt sind. Führende Polisario Milizionäre verwenden Finanzhilfen zum Kauf von Waffen oder kaufen damit privat genutzte Immobilien auf den Kanarischen Inseln und in Spanien.
Der Generaldirektor der »Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz« (GD ECHO) erklärte, dass Algerien eine Steuer von 5% auf die Hilfen eingehoben habe, die jedes Jahr nach Tindouf geschickt werden. Die EU hat auf diesem Weg in den letzten 30 Jahren zwischen 10 und 15 Mio. Euro Steuern an Algerien gezahlt und damit indirekt die Polisario finanziert.
Im Februar 2020 richteten örtliche NGOs eine schriftliche Erklärung an den UN-Menschenrechtsrat zum Thema Kindersoldaten in Tindouf. Darin wird festgehalten, dass die sahrauischen Lager zum Epizentrum für Kinderrekrutierungen für militärische Zwecke in Afrika geworden sind.
Im Jänner 2021 wiederholte die französische NGO »Internationale Allianz für die Verteidigung der Rechte und Freiheiten« (AIDL) die Vorwürfe und beschuldigte die Polisario, aktiv Kinder für den Militärdienst in den Lagern von Tindouf zu rekrutieren und Kindersoldaten auszubilden. AIDL fand Videos von Kindern, die mit Schusswaffen üben und militärisch trainiert werden. In marokkanischen Medien und auf Websites der algerischen Opposition finden sich immer wieder Berichte über die Kindersoldaten der Polisario (zum Beispiel hier, hier, und hier).
Die Terror Connection: Iran-Hisbollah-Polisario
2017 wurden die Bestrebungen Irans öffentlich, die Polisario zu einer Stellvertreter-Miliz zu formen, um seinen Einfluss in Westafrika zu stärken. Dabei bedient er sich der Hisbollah, die offensichtlich als Blaupause für die Polisario dienen soll. Diese Aktivitäten werden von der iranischen Botschaft in Algerien gefördert und koordiniert.
Laut Außenminister Nasser Bourita habe Marokko sichere Beweise, dass die Hisbollah über die iranische Botschaft in Algier die separatistische Frente Polisario bewaffne und trainiere. Die Hisbollah habe im März 2017 drei hochrangige Mitglieder in die Lager der Polisario entsandt, sie mit Waffen versorgt und an Boden-Luft-Raketen trainiert: Ali Musa Daqduq, Militärberater, Haidar Subhi Habib, Leiter der Auslandsoperationen, und Hajj Abu Wael Zalzali, Leiter der militärischen Ausbildung.
Vor allem Daqduq ist kein Unbekannter. Nach einem Anschlag 2007 in Kerbala, Irak, bei dem fünf US-Soldaten getötet wurden, war er fast fünf Jahre in den Vereinigten Staaten inhaftiert, bevor er in irakischen Gewahrsam überführt wurde, von wo er 2012 freikam. Zu Beginn des Irak-Krieges war er von Qassem Soleimani, dem bei einem US-Luftangriff getöteten Kommandeur der Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, mit dem Aufbau und der Ausbildung der schiitischen Milizen betraut worden. Er befehligte sowohl eine Spezialeinheit der Hisbollah als auch das Sicherheitskommando des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah.
Als Schlüsselfigur in der Koordination der Zusammenarbeit zwischen Polisario und Hisbollah gilt in Rabat der iranische Kulturattaché in Algerien, Amir al-Moussaoui. Er soll geholfen haben, Waffen von der Hisbollah über Algerien an die Polisario zu schmuggeln.
Überraschung wäre das keine. Iranische Diplomaten dienten in der Vergangenheit immer wieder als Deckung für iranische Geheimdienstoperationen. Erst im Februar dieses Jahres wurde Assadollah Assadi in Belgien zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der in Wien als Botschaftsmitarbeiter akkreditierte Iraner soll einen Anschlag in Paris vorbereitet haben.
Cui bono? Ein Fazit.
Marokko gehört zu den engsten diplomatischen und strategischen Partnern der USA außerhalb der NATO. Für Europa ist das Land insbesondere bei der Steuerung der Migrationsbewegungen auf den Kontinent von eminenter Bedeutung.
Mit seiner klaren Ablehnung der Anerkennung der marokkanischen Souveränität über die Westsahara positioniert sich Europa, allen voran Deutschland, an der Seite Algeriens gegen Marokko und die USA. Davon profitiert vor Ort eine mehr als zweifelhafte Miliz, die Kindersoldaten rekrutiert und internationale Hilfslieferungen veruntreut.
Man spielt dem Iran in die Hände, der seine Machtposition in Afrika ausbauen und mit der Polisario in Westafrika eine Proxy-Truppe nach dem Muster der Hisbollah im Libanon etablieren will – was im Kontext mit den Aktivitäten Irans zum Bau einer Atombombe doppelt beunruhigend ist.
Gleichzeitig versuchen anti-israelische Lobbyisten, die Biden-Administration zur Rücknahme der Anerkennung von Marokkos Souveränität über die Westsahara zu bewegen, um Marokko dazu zu bringen, aus dem Normalisierungsprozess mit Israel auszusteigen.
Das ist ein hoher Preis. Aber wofür? Den Sahrauis wäre vermutlich mehr geholfen, würde Europa die Westsahara als marokkanisches Gebiet anerkennen und mit einem Mix aus diplomatischem Druck und Investitionen in Rabat Garantien für die Sicherheit und die Rechte der Sahrauis sicherstellen. Eine wirtschaftlich florierende marokkanische Sahara könnte obendrein den Migrationsdruck auf den Kontinent verringern.
Inwiefern die Politik des deutschen Außenamts in der Westsahara-Frage den Interessen Europas oder jenen der Bewohner der marokkanischen Sahara dienen sollte, erschließt sich jedenfalls nicht.
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