WIDERSTAND VOR DER GASKAMMER

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Photo: Israel Defense ForcesCC BY-SA 3.0

Die Tänzerin, die einen SS-Offizier erschoss

Nicht einmal einen Monat lang dauerte der Aufstand des Warschauer Ghettos von Mitte April bis Mitte Mai 1943. Der verzweifelte Widerstand gegen die SS und Einheiten der Deutschen Armee war von Beginn an chancenlos, und tausende Bewohner des Ghettos versteckten sich nach der Niederschlagung des Aufstands in den umliegenden Bezirken der Stadt. Unter ihnen eine polnische Tänzerin mit dem Namen Franziska Mann, als Lola Horowitz in Brod geboren, die in Warschau in Theatern und Nachtklubs aufgetreten war.

Franziska Mann

Franziska Mann studierte Tanz und Musik in dem berühmten Studio der Irena Prusicka und war mit der Sängerin Wiera Gran und Schriftstellerin Stefania Grodzieńska befreundet. Beim internationalen Tanz-Wettbewerb in Paris 1939 errang sie den 4. Platz unter mehr als 100 Teilnehmerinnen aus der ganzen Welt. Sie galt als eine der schönsten und begabtesten Tänzerinnen Polens in den Jahren vor Ausbruch des Krieges. Nach dem Überfall auf Polen und der Besetzung von Warschau trat sie noch ein paar Mal in verschiedenen Nachtklubs auf, bis man sie zwang, in das Ghetto von Warschau zu übersiedeln.

Nach der Flucht vieler Juden aus dem zerstörten Ghetto verkündete die SS, dass im Hotel Polski Reisepässe und Visa für Länder ausgegeben werden, die jüdische Flüchtlinge aufnehmen würden. Mehr als tausend meldeten sich in der Hoffnung, dass sie gerettet werden könnten. Doch es war eine dieser perversen, kranken Ideen der SS-Führung, die uns heute noch irritieren, wie ein angeblich zivilisiertes Volk zu solchen Grausamkeiten im Stande war. Die angekündigten Reisegenehmigungen waren nichts anders als ein Trick, um die versteckten Juden einzusammeln und in die Konzentrationslager zu bringen. 

1800 Frauen, Männer und Kinder meldeten sich im Hotel Polski, die SS verhaftete sie und transportierte sie in engen Viehwagen nach Bergen-Belsen und von dort weiter nach Auschwitz.  Unter ihnen Franziska Mann, eine 27-jährige schlanke, hochgewachsene, schöne Frau, die dem Wachpersonal auf der Rampe bei der Selektion in Auschwitz sofort auffiel.

Die Ereignisse in Auschwitz nach der Ankunft von Franziska Mann sind nur durch Erzählungen von ehemaligen Häftlingen dokumentiert. Unter ihnen Filip Müller und Jerzy Tabeau, dessen Bericht in die Dokumentationen der Nürnberger Prozesse unter dem Aktenzeichen L-022 aufgenommen wurde.

Tatsache ist, dass unter den ankommenden Frauen, Männern und Kindern Angst und Unruhe ausbrach, weil sie immer noch hofften, hier die notwendigen Papiere für eine Ausreise zu bekommen. Als jedoch Männer, Frauen und Kinder voneinander getrennt wurden, kam es zu den ersten Widerständen unter einigen Häftlingen, auf die das Wachpersonal mit extremer Brutalität reagierte.

Unter ihnen der SS-Mann Josef Schillinger, der von Überlebenden als besonders grausam beschrieben wurde und sich rühmte, Häftlinge mit der bloßen Hand totschlagen zu können. Der polnische Schriftsteller Tadeusz Borowski, Autor des wahrscheinlich besten Buches über Auschwitz – »Bei uns in Auschwitz« – schrieb über Schillinger: »Der Hieb seiner Hand war wuchtig wie ein Knüppel, spielend zerschlug er einen Kiefer, und wo er hinschlug, floss Blut.«

Schillingers Aufgabe war die Überführung der Gefangenen von der Rampe zu den Gaskammern, zum Krematorium II. Dort wurde den Frauen erklärt, sie sollten ihre Kleidung ablegen, da sie für die Ausreise aus Deutschland zuerst durch die »Desinfektions-Abteilung« müssten. Die meisten Frauen fügten sich ihrem Schicksal, doch nach den Erinnerungen eines Häftlings, der im »Sonderkommando« zur Bewachung der Häftlinge arbeitete, weigerte sich Franziska Mann sich auszuziehen. Als man auf sie einschlug, begann sie langsam sich zu entkleiden, überraschte jedoch den SS-Mann Walter Quakernack mit einem Schlag mit dem Absatz ihres Schuhs ins Gesicht. Der Mann hob vor Schreck die Arme, so dass Franziska Mann ihm seine Dienstwaffe entreißen konnte.

Mit dem ersten Schuss verfehlte sie Walter Quakernack und traf den dahinter stehenden Josef Schillinger, der mit einem Bauchschuss noch am Weg ins Krankenhaus starb. Mit dem zweiten Schuss verletzte sie den SS-Mann Wilhelm Emmerich, der mit der Beinverletzung nie wieder richtig gehen konnte.

Motiviert durch Franziska Mann begannen die anderen Frauen auf das Wachpersonal einzuschlagen. Die bewaffneten Männer verließen fluchtartig das Gebäude und forderten Verstärkung an. Auf Befehl des Lagerkommandanten Rudolf Höß schoss die SS mit zwei Maschinengewehren in die Baracke, wo die Frauen warteten, bis sich nichts mehr rührte. Noch am nächsten Tag feuerte die Wachmannschaft wahllos vom Sicherheitsturm aus in das Lager und tötete 13 Häftlinge.

Andere Berichte beschreiben die Situation als Auseinandersetzung an der Rampe, als es zur Trennung zwischen Frauen, Männern und Kindern kam. Auch in diesem Bericht wird beschrieben, dass Franziska Mann einem SS-Mann die Pistole entwendete, Schillinger erschoss und Emmerich verletzte. In den Dokumenten der SS-Verwaltung fanden sich keine Unterlagen über den Vorfall, nur die Schussverletzungen von Schillinger und Emmerich sind dokumentiert. Festgehalten wurde nur, dass Schillinger durch die Schüsse von Franziska Mann getötet und Emmerich schwer verletzt wurde. 

2003 setzte sich der Historiker Andreas Meckel beim Bürgermeister der Stadt Breisach dafür ein, dass auf dem örtlichen Friedhof der Grabstein von Josef Schillinger entfernt werde. Er argumentierte, dass Millionen von Ermordeten keine Grabstätten hätten, während einer der Mörder hier seine letzte Ruhestätte habe. Der Grabstein wurde entfernt, das Grab geebnet und der Name von Schillinger vom örtlichen Kriegerdenkmal entfernt.

Am 27. Jänner, am Tag der Befreiung von Auschwitz, werden Vertreter von Regierungen, religiösen Vereinigungen und anderen Organisationen betonen, dass sich ein industrieller Massenmord wie in Auschwitz nie wiederholen dürfe. Trotz all der schönen Worte gibt es für Juden eigentlich nur eine Garantie dafür – den Staat Israel.

Juden in Europa lebten bis zum Nationalsozialismus in unterschiedlich organisierten Gemeinden, religiös, liberal, orthodox oder nicht religiös, assimiliert oder abgeschottet von der nicht-jüdischen Bevölkerung. Ein weitgehend unstrukturiertes und unorganisiertes Mosaik mit den verschiedensten Interessen, Überzeugungen und Ansichten. Die »Juden« als Minderheit, die sich organisieren hätte können, um Widerstand zu leisten, existierten nicht. Sie reichten von den orthodoxen Juden im mittelalterlichen Shtetl in Osteuropa bis zu den hoch dekorierten ehemaligen Frontsoldaten der deutschen und österreichischen Armee.

Seit der Staatsgründung Israels hat sich das geändert. Es gibt eine militärische Identität und das Überfliegen von Auschwitz durch israelische Kampfflugzeuge ist als Warnung zu verstehen, dass Israel einen neuen Holocaust nicht zulassen werde – an keinem Ort der Welt. So lange es Israel gibt, wird es kein Auschwitz geben – egal in welcher Form, egal in welchem Land. Deshalb ist für die meisten Juden Anti-Zionismus auch eine Form des Antisemitismus, denn wer den Staat Israel infrage stellt, stellt die Sicherheit aller Juden weltweit infrage. 

 

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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