Die EU als Vorreiter
Von Clemens Witttwehr
Regelmäßig machen Tierschützer mit Forderungen nach einem Stopp für jegliche Tierversuche auf sich aufmerksam: Gruselige Bilder von gequälten Affen und geschundenen Kaninchen sorgen für die nötige Publicity.
Klar, wer sieht schon gerne dabei zu, wie einem zappelnden Nagetier Säure ins Auge geträufelt wird, um Bindehautverletzungen zu testen? Die plakativen Forderungen nach dem sofortigen Aus für jede Form von Vivisektion verstellen jedoch den Blick auf die wissenschaftliche Realität – und ihre aktuelle Umsetzung sowie die gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Dass ein sofortiges Aus für alle Tierversuche katastrophale Auswirkungen auf die Spezies Homo sapiens hätte, liegt auf der Hand: Die Wissenschaft ist derzeit (immer noch) auf Tierversuche angewiesen, sowohl in der Forschung nach neuen Arzneimitteln als auch in der Risikobewertung von Industriechemikalien: Eine Gesellschaft ohne neue Medikamente, dafür aber mit jeder Menge Substanzen, deren Gefährlichkeit weitgehend unerforscht ist, wäre die Folge; nur die allerradikalsten Tierschützer würden einer solchen Welt wohl Positives abgewinnen.
Alternativen zu Tierversuchen
Doch die Lage ist schon heute wesentlich besser als in manchen Medien kolportiert wird: Auch Wissenschafter sind sich weitgehend darüber einig, dass Tierversuche ein mangelhaftes Instrument sind, um Vorgänge im menschlichen Organismus zu erforschen: Tierstudien können die Humansituation nur annähernd abbilden und versagen nicht selten völlig. Der tierische Stoffwechsel unterscheidet sich so grundlegend vom menschlichen, dass Tierversuche oft nur ungefähre Hinweise auf die Wirkung (erwünscht und unerwünscht) einer Substanz geben können.
Die Wissenschaft beginnt daher vermehrt, auf ein anderes Pferd (im wahrsten Sinne …) zu setzen: Die drei “R”!
- Reduction der Anzahl der Tiere pro Studie = mehr sinnvolle Resultate mit gleich viel Tieren;
- Refinement der Tierversuche = weniger Tierleid durch weniger strapaziöse Behandlungen;
- Replacement = Ersatz von Tieren durch In-vitro-Tests oder Computersimulationen.
Insbesondere dieses letzte “R”, das Replacement, stellt einen radikalen Paradigmenwechsel in der Toxikologie dar: Während klassische Tierversuche eher beobachtender Natur sind (“wieviel Gift verträgt die Ratte, bevor sie Krebs kriegt?”), zielt die Toxikologie des 21. Jahrhunderts auf ein grundsätzlicheres Verständnis der biologischen Vorgänge (“warum entsteht ein Tumor?”). Diese Fragen lassen sich sehr gut mit Alternativmethoden beantworten, und das Wissen um den mechanistischen Hintergrund von Wirkstoffen wird derzeit in vielen Labors weltweit massiv ausgebaut und führt schon heute zum Umdenken, auch im regulatorischen Umfeld.
Keine Tierversuche für Kosmetika in der EU
Die Europäische Union ist weltweiter Vorreiter in der Umsetzung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse in Vorschriften hinsichtlich der Sicherheitsbewertung von Chemikalien. Es war die EU, die 2013 als erster Wirtschaftsraum ein völliges Verbot von Tierversuchen für Kosmetika erließ: Kein Tier leidet mehr für Hautcremes, Shampoos, Lippenstifte und ähnliches, die in der EU produziert oder in die EU importiert werden. Israel und Indien folgten dem europäischen Beispiel recht schnell, während Tierschützern in den USA und China bis jetzt nur der neidvolle Blick auf die europäische Gesetzeslage bleibt. Zusätzlich investiert die EU-Forschungsförderung Millionen in die Entwicklung von In-vitro-Alternativmethoden, um die europäische Kosmetikindustrie beim Umstieg zu unterstützen: dies sichert nicht zuletzt einen enormen Startvorteil, sobald die Riesenmärkte China und USA ebenfalls umdenken.
Damit nicht genug: Erst kürzlich wurde auch das europäische Chemikaliengesetz REACH adaptiert, sodass nun für Hautsensitivierung erstmals ein In-vitro-Test verpflichtend zur Anwendung kommt – und das nicht nur für Kosmetika, sondern für alle Chemikalien in Europa: Das rettet Tausenden von Labortieren das Leben und spart allen Beteiligten eine Menge Geld.
Alles erste Schritte, keine Frage, und der Weg zu einer weitgehend tierversuchsfreien Welt ist noch lang. Dabei sollte man aber das bereits Geleistete nicht geringschätzen: Industrie, Wissenschaft, Gesetzgeber – und ja, auch Tierschützer – haben insbesondere in der EU die Win-Win-Situation erkannt: Zuverlässigere Alternativmethoden benötigen weniger Versuchstiere, was in weiterer Folge geringere Kosten verursacht. Wissenschafter und Regulatoren der Europäischen Union sind die Vorreiter in den einschlägigen OECD- und WHO-Gremien.
Hier zeigt sich die Soft Power der Europäischen Union von ihrer besten Seite. Applaus!
Über den Autor:
Mag. Clemens Wittwehr arbeitet im Joint Research Centre (JRC) der Europäischen Kommission daran, die Kluft zwischen Forschung und Politik zu überbrücken. Der Projektleiter vertritt die Europäische Union in OECD-Projekten, die Tools liefern, um die dafür nötige Kommunikation im Bereich der Risikobewertung von Chemikalien zu ermöglichen und damit die Basis für evidenzbasierte Entscheidungen auf europäischer Ebene zu schaffen. Seine aktuelle Publikation beschäftigt sich mit Möglichkeiten, biologische “Adverse Outcome Pathways” mit Computermodellen abzubilden. Der gebürtige Oberösterreicher lebt seit fast 20 Jahren in Italien.
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