OPFERT DIE ALTEN?

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Noch 14.000-mal ins Freie gehen

Ein kleiner Bub mit kurzgeschorenen, dunklen Haaren, einer Brille mit schwarzem Rand und Gläsern, die seine großen, braunen Augen noch größer erscheinen lassen, fragte mich in einem Park in der Nähe meiner Wohnung: »Wie heißt der Hund?«

»Olive heißt er, weil er dunkelgrüne Flecken hat wie eine Olive.« Er lächelte und setzte sich neben mich auf die Bank.

Ich sehe ihn fast jeden Tag. Oft ist er allein auf dem Spielplatz, geht von der Schaukel zum Klettergerüst und wieder zurück ohne zu Schaukeln oder zu Klettern, oder sitzt am Rand der Sandkiste auf der hölzernen Umrandung und lässt ruhig den Sand durch seine Hände gleiten. Ein kleiner Philosoph, denk ich manchmal, wenn ich ihn beobachte. An manchen Tagen unterhalten wir uns ein paar Minuten, er erzählt von anderen Kindern, nennt irgendwelche Namen und ich hör ihm zu, mehr scheint er von mir nicht zu erwarten. Er beklagt sich nie, ist immer freundlich, fast schon zu nett für einen Buben in seinem Alter.

Vor ein paar Tagen überraschte er mich mit der Frage: »Sind sie schon sehr alt?« Ich wusste im Moment nicht, was ich antworten sollte und sagte nach kurzem Nachdenken: »Sehr alt vielleicht nicht, ziemlich alt vielleicht.«

»Wie viel ist ziemlich alt?« Fragte er, ich musste lachen und antwortete: »Das ist nicht mehr jung und noch nicht sehr alt.«

»Und, werden sie bald sterben?« Fragte er und ich sagte nach einem Moment des Überlegen: »Warum fragst du?«

Seine Füße baumelten neben mir auf der Bank hin und her, weil sie den Boden kaum erreichten. Er sah auf seine nackten Knie, die die kurzen Hosen zeigten und rieb mit den Händen nervös auf ihnen auf und ab.

»Na, ja«, sagte er, »mein Vater meint, die alten Menschen sterben jetzt wegen dem Virus.« 

»Das stimmt schon, die Älteren sind sicher mehr gefährdet als die Jungen«, antworte ich.

»Aber er sagt auch, wegen der Alten dürfen die Kinder nicht in die Schule gehen.«

»Wie heißt du eigentlich«, versuchte ich das Thema zu wechseln. »Robert«, antwortete er.

»Ich heiße Peter«, sagte ich. Wir saßen schweigend neben einander bis ich ihn fragte: »Die letzten Wochen, warst du da viel zu Hause?« Er nickte. »Was hast du gemacht in der Wohnung, ohne Spielplatz, ohne Park?«

»Mit meiner Schwester gespielt, oder gestritten, wer den Computer benutzen darf, oder welches Programm im Fernsehen. Wir haben zusammen ein Zimmer, meistens war sie eh am Telefon mit ihren Freundinnen!« Der sonst so ruhige Robert wurde plötzlich lauter.

»Ist sie älter als du?« Fragte ich ihn. Er nickte wieder. »Und bis du froh, dass du jetzt wieder auf den Spielplatz kannst?« Fragte ich ihn, doch er antworte nicht, sondern beobachtete seine wippenden Schuhe.

»Weißt du was, wir machen ein Rechenspiel, du bist doch sicher gut im Rechnen?« Fragte ich, und er nickte wieder, sah mich mit seinen großen Augen an und lächelte, das Nicken kam in einer ganz anderen Laune diesmal.

»Wie alt bist du?« Fragte ich. »Zehn«, sagte er. »Und wie alt ist dein Vater?« Er bewegte den Kopf hin und her und sagte: »Vorige Woche hat er Geburtstag gehabt, da war er 43.«

»Gut«, sagte ich, »und wie alt ist dein Opa?«

»Der ist schon tot«, antwortete Robert. »Wann ist er denn gestorben?« Fragte ich, und er antwortete, er glaube vor einem Jahr und auf meine Frage, wie alt er damals gewesen sei, zuckte er mit den Achseln. 

»Kannst du dich an einen Geburtstag mit Opa erinnern?« Fragte ich, und er antworte begeistert, dass zum 80. Geburtstag von Opa viele Leute gekommen wären, es habe eine große Torte gegeben und der Opa habe geweint, obwohl er sonst nie weinen würde.

»Gut«, antworte ich, »nehmen wir an, er ist achtzig geworden.« Robert zuckte wieder mit den Schultern, aber ich sprach einfach weiter: »Wenn das Jahr 365 Tage hat, können wir beide vielleicht an 200 Tagen hinausgehen, manchmal regnet es, oder es ist zu kalt, oder man hat einfach keine Lust dazu.« Robert hielt plötzlich seine Beine still und schien nachzudenken. »Ja!« Sagte er plötzlich, »immer kann man nicht rausgehen!«

»Sehr gut, da sind wir uns einig.« Und Robert nickte wieder.

»Wenn du zehn Jahre alt bist, und dein Opa ist achtzig geworden, dann hast du noch 70 Jahre zum Hinaus-an-die-frische-Luft gehen, stimmt das?« Fragte ich ihn.

»Ja, sicher, achtzig weniger zehn ist siebzig«, sagte er selbstbewusst und sah mich an, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Ich holte mein Mobiltelefon aus der Jackentasche und suchte den Rechner, und zeigte ihm die Multiplikation 200 mal 70, ergab 14.000.

»Du kannst noch 14.000-mal Hinausgehen, in den Park, ans Meer, in die Berge Schifahren oder dir eine interessante Stadt anschauen«, sagte ich. »Ja«, antwortete er begeistert, »wir waren schon einmal in Venedig!«

»Eine wunderbare Stadt«, sagte ich und fragte ihn dann: »Was glaubst, wie alt ich bin?«

Er antwortete nicht und die Beine baumelten.

»Ich bin fast siebzig.« Er nickte nur und fuhr mit den Händen auf und ab auf seinen Knien.

»Mir bleiben also noch zehn Jahre bis ich achtzig bin.« Ich zeigte ihm auf dem Rechner die Multiplikation 200 mal zehn. »Macht 2.000«, sagte ich. »Das ist aber auch viel«, sagte er plötzlich und ich musste lachen. 

»Ja, aber 14.000 ist viel, viel mehr als 2.000«, sagte ich, und er antwortete: »Ja, viel mehr!«

»Also, wer sollte in der Wohnung bleiben, und wer Hinausgehen dürfen?« Fragte ich. Mein Gerede schien ihn weniger zu interessieren als die Rechenaufgaben, wenn immer ich Zahlen nannte, hörte er auf, die Beine zu schwingen und begann nachzudenken. Jetzt antwortete er nicht.

»Wenn ich ein Jahr zu Hause bleibe, damit du, deine Freunde und deine Schwester in die Schule gehen könnten, bleiben mir noch 1800 Tage zum Rausgehen und dir die ganzen 14 000. Wenn du ein Jahr zu Haus bist, bleiben mir 2 000 und dir…?« Ich wartete, ob er antworten würde und nach einer Pause sagte er: »Vielleicht 13 800!« So laut, dass der Hund der müde vor uns auf dem Boden schlummerte, aufschreckte.

»Stimmt«, sagte ich, »du bist ja wirklich gut im Rechnen.« »Das sagt mein Lehrer auch immer«, antwortete Robert strahlend. »Also, überlege noch mal, wer sollte zu Hause bleiben, die Alten oder die Jungen?« Fragte ich ihn. 

Eine Zeitlang waren wir beide ruhig und sagten nichts, bis Robert von der Bank glitt, sich neben den Hund hockte und ihm übers Fell strich. »Der ist wirklich lieb«, sagte er, und ich nickte diesmal, etwas enttäuscht, dass meine Lektion plötzlich vergessen und unwichtig war. Robert stand auf und sagte, er müsse jetzt zurück zu seinen Eltern. Er deutete auf ein Haus am Rande des Parks und ging einfach und ließ mich allein zurück mit dem Hund.

Die nächsten Tage veränderte sich das Wetter, es war regnerisch und kühl. Ich ging weiter jeden Tag meine Runde zum Park und wieder zurück, doch sah Robert nicht mehr. Er ging mir ab. Ich saß allein auf der Bank und meine Augen suchten jede Ecke des Parks ab, doch er kam nicht.

Etwa zehn Tage später sah ich einen Mann mit einem Kind an der Hand. Sie kamen direkt auf mich zu. Ich erkannte Robert, er hatte ein ernstes Gesicht und reagierte nicht auf mein Zuwinken. Sie kamen näher und als sie vor mir standen, sagte der Mann, groß und schlank, in engen Hosen und einem Pullover mit V-Ausschnitt: »Haben sie mit meinem Sohn gesprochen?«  Ich sah Roberts Gesicht und seine unruhigen Augen, antwortete nicht und versuchte zu lächeln, doch es war mehr ein gequältes Grinsen.

»Ich verbitte mir, dass sie mit meinem Sohn reden«, sagte der Mann, während er sprach immer lauter werdend. »Der geht seit zwei Wochen nicht aus dem Haus und meint, er muss jetzt die Alten schonen, weil er hat noch viele tausend Tage Zeit, hinaus zu gehen. Was für einen Blödsinn erzählen sie ihm da!«

Ich musste lachen und konnte nicht aufhören, bis Roberts Vater sich zu seinem Sohn beugte und leise sagte: »Robert, du kannst doch nicht mit jedem sprechen, der Mann ist schon älter und vielleicht nicht mehr ganz gesund.«

Er zog Robert an der Hand fort. Nach ein paar Metern blieb Robert stehen und drehte sich um, lächelte und zuckte mit den Achseln.

Zuerst erschienen in NEWS. 


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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