Niemand ist eine Insel
Von Fleur Brockhaus
Mein Vater war lungentransplantiert. Ich kann mich eigentlich während meiner ganzen Kindheit nur an einen kranken Vater erinnern, auf den man immer »aufpassen« musste. Schon ganz klein war ich immer panisch, wenn wir allein unterwegs waren, und habe immer wieder nachgefragt, ob wir alle Notfallmedikamente dabei haben.
Dann, als ich 11 und 12 war, wurde es richtig schlimm, und er konnte nur noch mit Sauerstoff leben, ist immer mehr abgemagert, war schließlich nur noch Haut und Knochen, als endlich – da war ich gerade 14 – eine Lunge für ihn gefunden wurde.
Eines Morgens kam ich in die Küche, und meine ältere Schwester hat mir erzählt, dass unsere Eltern mitten in der Nacht zur Transplantation abgeholt worden waren, und ich dachte, was ist, wenn ich ihn gestern zum letzten Mal gesehen habe? Ich habe panisch überlegt, was am Vortag unsere letzte gemeinsame Situation war, weil ich dachte, das sei vielleicht das Letzte, das ich noch von ihm habe. Man wird ja so irrational in solchen Situationen.
Die Ärzte hatten schon Wochen zuvor gesagt, es sei nicht sicher, dass er eine Transplantation in seiner Verfassung noch überleben würde. Und sie haben auch deutlich gemacht, dass sich seine Situation nur noch minimal verschlechtern müsse, und er würde von der Warteliste gestrichen, um den Platz für jemanden freizumachen, der eine bessere Überlebenschance hat. Während der Transplantation war er dann auch wirklich kurz »weg«, aber sie haben ihn reanimieren können. Nach der gelungenen Operation lag er noch ein paar Tage im künstlichen Koma. Ich weiß nicht, ob man das heute noch so macht, aber damals war es so.
Wir waren ja so weit weg. Ich konnte ihn nicht besuchen und war vollkommen überfordert mit der ganzen Situation. Man weiß ja auch nie, ob das Organ nicht sofort wieder abgestoßen wird. Vielleicht ist man da heute weiter, das weiß ich nicht, damals haben die Ärzte uns offen gesagt, dass die Situation nicht hundertprozentig einzuschätzen sei. Ich habe diese Zeit nie wirklich verwunden, und als mein Vater achteinhalb Jahre später starb, war es so, als hätten wir seinen Tod schon einmal »geübt«. Alles war wieder da.
Aber wir hatten eben auch diese vielen Jahre. Früher sagte man uns, mein Vater würde eine Zeitspanne von drei bis fünf Jahren gewinnen. Als die »Frist« abgelaufen war, hat er manchmal selbst Witze gemacht, man hätte ihn da oben wohl vergessen. Leider hatte man ihn dann doch nicht vergessen.
Als ich nach Spahns Initiative die teils kaltschnäuzigen Kommentare über Organtransplantation in den Sozialen Medien gelesen habe, die womöglich einen Großteil der Meinungen in der Bevölkerung widerspiegeln, musste ich kurz in die Tüte atmen. Und zwar wirklich, nicht im übertragenen Sinn.
Da wird der Hirntod nicht anerkannt und irgendwas von einer Würde gefaselt – eine Würde, die aber gleichzeitig leidenden Menschen abgesprochen wird. In einem Kommentar war davon die Rede, man müsse doch schließlich auch loslassen können.
Mein Vater hat immer versichert, dass er sich nur für meine Mutter und uns Kinder auf die Transplantation eingelassen habe. Er hat nicht für sich selbst nicht »losgelassen«, sondern all das für uns über sich ergehen lassen. Für seine Familie. Ich frage mich, was diese Leute denken, wie eine Transplantation abläuft. Was vorher passiert, was danach.
Mein Vater hatte den ganzen Oberkörper zerschnitten, er sah aus, als hätte ihn ein Hai in die Mangel genommen. Bei jedem Wetterumschwung konnte man ihm ansehen, dass es überall zieht. Er hat nie ein Wort gesagt, nie gejammert. Als er Jahre später durch die Medikamente, die alle Transplantationspatienten ihr ganzes weiteres Leben nehmen müssen, Krebs bekam, haben die Metastasen seine Knochen so zerfressen, dass ihm wortwörtlich ein Arm abgefallen ist. Das war der letzte Moment zu Hause. Er wollte aufstehen, es machte einen Ruck durch seinen Körper, er fiel hin, und dann hielt nur noch das Fleisch seinen Arm zusammen. Im Krankenhaus haben sie ihn sofort mit so viel Morphium vollgepumpt, dass wir nur noch wenige wache Stunden mit ihm hatten, und dann ist er innerhalb der nächsten zweieinhalb Tage an seinem Lungenkrebs erstickt.
Aber in den Jahren dazwischen hatte ich zum ersten Mal einen »normalen« Vater. Er sollte öffentliche Plätze meiden, wegen der Keime, und durfte nicht ins Flugzeug – ich glaube, das ist heute anders. Aber er konnte wieder gehen, hatte ein Leben, atmete nicht durch Schläuche und sah nicht aus wie ein Gerippe!
Ich würde selbst nie ein Organ haben wollen, das habe ich immer gewusst. Ich habe ja gesehen, was alles damit verbunden ist. Das ist nicht lustig und man muss einen unglaublichen Überlebenswillen haben, um die schmerzhaften Prozeduren durchzustehen. Aber ich habe ja auch keine Kinder, keine Ahnung, ob ich sonst nicht anders dächte. Vermutlich verändert sich dann alles, weil man auch krank noch auf sie statt auf sich selbst aufpassen will.
Gleichzeitig war aber natürlich immer klar, dass ich einen Organspendeausweis habe, wie meine ganze Familie. Selbst wenn ich irgendeine imaginäre Angst hätte, dass sie mich absichtlich sterben lassen oder sowas – das erzählen sich die Leute ja so gern – dann hätte ich ihn trotzdem. Als eine Art Gegenleistung. Als Rückzahlung, weil ein anderer Mensch einen Organspendeausweis hatte, der mir fast zehn Jahre mehr mit meinem Vater geschenkt hat.
Sich persönlich gegen die Spende der eigenen Organe auszusprechen, finde ich kleinlich, und ehrlich gesagt auch armselig, aber als Meinung kann ich das akzeptieren. Jeder ist für sein Handeln selbst verantwortlich. Doch lapidar über andere zu urteilen, ihnen auch noch zum Vorwurf zu machen, dass sie »am Leben hängen«, das finde ich so unfassbar oberflächlich und dumm, dass ich einer solchen Person versichern möchte, sie müsse sich keine Sorgen um ihren eigenen Hirntod machen. Der scheint schon voll im Gange.
Niemand ist eine Insel. Und ich glaube, wir selbst messen unserem Leben nie die Bedeutung bei, die es für andere Menschen hat.
Man kämpft doch gar nicht um sein eigenes Leben, sondern immer, weil andere einen im Leben halten wollen. Für mich ist meines Vaters Einwilligung zu seiner Lungentransplantation eine durch und durch altruistische Entscheidung gewesen. Er hat das nur für uns getan. Er selbst hing gar nicht übermäßig am Leben und hatte immer eine tiefe Schicksalsergebenheit, bereits während seiner Krankheiten. Ich habe ihn keinen Tag jammern hören.
Vielleicht ist das so eine Situation, die man erlebt haben muss, um zu verstehen, welches Ausmaß diese vermeintlich privaten Entscheidungen haben. Aber seine Organe mit ins Grab zu nehmen, um sie dort verrotten zu lassen, während ein anderer Mensch nur seine Kinder aufwachsen sehen will oder ihnen ersparen möchte, dass sie so früh im Leben am Grab eines Elternteils stehen müssen, das ist eine Form von Egoismus, die für mich nicht nachvollziehbar ist.
Selbst wenn die kolportierten Horrormärchen über die Organentnahmen wahr wären, würde ich dieses kurze Opfer im Sterben gerne für jemanden bringen. Und ich war oft und schwer genug krank, dass ich weiß, welche Ebenen körperlicher Schmerz erreichen kann und diese Aussage nicht leichtfertig treffe.
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Über die Autorin:
Fleur Brockhaus bezeichnet sich selbst – aus einer bunten Familie verschiedenster Herkunft stammend – als »europäisches Potpourri«. Die Weltbürgerin ist 1982 geboren, setzt sich privat für Mensch und Natur ein und hat sich beruflich den Buchstaben verschrieben. Zunächst als Buchhändlerin ins Arbeitsleben gestartet, wurde sie Übersetzerin und Dolmetscherin, um später über das Verlagswesen im Journalismus zu landen. Heute arbeitet sie im PR- und Social Media-Bereich.