MÄRCHENSTUNDE

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Rotkäppchen und ihr liebster Wolf

Es war einmal ein süßes Mädchen, das hatten viele lieb, am allerliebsten aber ihre Großmutter, mit der sie viele Jahre gemeinsam den Garten und das Haus betreute, das am Ende des Waldes lag. Rotkäppchen und Großmutter versorgten einander verlässlich, und wenn Rotkäppchen einen Korb voll mit Kuchen und Wein brachte, kochte Großmutter ein wunderbares Mittagessen mit knusprigem Schnitzel und würzigem Kartoffelsalat, sie tranken den Wein dazu und aßen den Kuchen als Nachspeise.

Die beiden verstanden einander großartig, und wenn auch das einst süße Mädchen zu einer stattlichen Frau herangewachsen war, und Großmutter, zwar noch rüstig und gesund, etwas langsamer ging und sich nicht mehr so gut bücken konnte bei der Gartenarbeit, und mit Rotkäppchen manchmal über Kleinigkeiten zu streiten begann, ergänzten sie einander und bildeten ein Paar, bei dem man sich die eine ohne die andere kaum mehr vorstellen konnte.

Im Wald lebte auch noch der Jäger, der eher einsam zwischen den Bäumen herumwanderte und manchmal, wenn er zufällig die eine oder andere traf, ein Gespräch mit Rotkäppchen oder der Großmutter suchte. Doch die beiden gingen ihm eher aus dem Weg und trauten dem Mann mit dem bösen Blick, dem dichten Schnauzbart und dem schweren Gewehr über der Schulter nicht recht.

An einem schönen Sommertag traf Rotkäppchen den Wolf auf dem Weg zur Großmutter. Sie grüßte ihn freundlich und er fragte sie, wo sie denn hingehen würde. Rotkäppchen hatte die Frage schon erwartet, denn der Wolf stand üblicherweise immer an der gleichen Stelle, und ohne je von sich selbst zu erzählen, stellte er eine Frage nach der anderen, die oft keinen Sinn machten, aber Rotkäppchen, geduldig und gutmütig, beantwortete ihm immer alle. Sie sagte, sie sei auf dem Weg zur Großmutter und als der Wolf sie fragte, ob sie nicht ein paar Blumen mitbringen wolle, bedankte sich Rotkäppchen für die gute Idee und begann in den Wiesen neben dem Weg die schönsten Blumen auszusuchen.

Als Rotkäppchen vor dem Haus der Großmutter stand, wunderte sie sich, dass die Tür aufstand und wie sie in die Stube trat, so kam es ihr so seltsam darin vor, dass sie dachte: Ei du mein Gott, wie ängstlich wird mir’s heute zumute, ich bin doch sonst so gerne bei der Großmutter. Sie sagte »Guten Morgen«, bekam jedoch keine Antwort. Darauf ging sie zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag Großmutter, sie hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus.

Rotkäppchen, ohne zu ahnen, dass hier der Wolf als Großmutter verkleidet dalag, begann irritiert und verwundert Fragen zu stellen, die den Wolf in die ungewohnte Situation drängten, befragt zu werden, statt Fragen zu stellen, und er mürrisch antwortete. Staunend erkundigte sich Rotkäppchen nach Größe der Ohren, der Augen, Hände und dem großen Maul, bis dem Wolf das Gespräch auf die Nerven ging, er das Rotkäppchen verschlang, nachdem er bereits die Großmutter gefressen hatte, sich ins Bett legte, einschlief und laut zu schnarchen begann.

Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: Wie, die alte Frau schnarcht! Du musst doch sehen, ob ihr etwas fehlt. Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bett kam, so sah er, dass der Wolf darin lag. »Finde ich dich hier, du alter Sünder«, sagte er, »ich habe dich lange gesucht.«

Er befreite Großmutter und Rotkäppchen, ohne den Wolf ernstlich zu verletzen, und bat Rotkäppchen, Steine zu holen, um den Bauch des Wolfs zu füllen. Rotkäppchen weigerte sich jedoch und meinte, das sei eine Verletzung der Rechte des Wolfs, es gehöre einfach zu seiner Art und Tradition, Menschen zu fressen, das könne man ihm nicht vorwerfen. Und auch wenn es ihren persönlichen Werten widerspreche, dürfe sie diese den Lebewesen aus anderen Kulturkreisen nicht einfach überstülpen. 

Der Jäger fragte die Großmutter, die eher ausweichend antwortete und von Tradition sprach, die respektiert werden sollten, allerdings gehe es für sie eher um die Zukunft, ohne das Geschaffene zu gefährden.

Der Jäger verstand weder das Rotkäppchen noch die Großmutter, verzichtete jedoch darauf, dem Wolf den Bauch mit Steinen zu füllen und versorgte ihn, ohne dass der Schlafende etwas merkte.

Als der Wolf aufwachte, verließ er das Bett und ging langsam durch das Haus, sah erstaunt Rotkäppchen und Großmutter bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch sitzen, die er doch beide gefressen hatte, und den Jäger, der einsam im Wohnzimmer in einem Schaukelstuhl hin und her wippte und aus dem Fenster starrte. 

Er überlegte kurz, ob er sich zu den beiden setzen und sie eventuell noch einmal verspeisen oder mit dem Jäger ein Gespräch beginnen sollte. Doch der Ärger über den Jäger überwog seinen Appetit, und er fragte ihn, ob es notwendig sei, immer mit einem geladenen Gewehr im Wald herum zu laufen. Er sei für Ordnung verantwortlich, antwortete der Jäger, und müsse den Wald vor fremden Eindringlingen beschützen, sonst würde der ruhige Wald eines Tages voll fremder Tiere und Menschen sein. Der Wolf widersprach dieser Meinung vehement.

Großmutter und Rotkäppchen unterbrachen ihren Plausch in der Küche wegen des lauten Streits, näherten sich dem Wohnzimmer und lauschten den beiden in der Tür stehend, bis Großmutter sich einmischte und dem Jäger zustimmte, dass es Zeit für mehr Ruhe und Ordnung im Walde sei. Rotkäppchen, erstaunt über die Reaktion der Großmutter, gesellte sich auf die Seite des Wolfes und meinte, es ginge doch im Leben mehr um Freiheit und nicht nur um Ordnung.

Als der Wolf den Jäger mit der Frage konfrontierte, ob der ständige Ruf nach Ordnung nicht eines Tages in einem System enden könnte, dass schon einst eine radikale und mörderische Ordnung über die Freiheit stellte, rastete der Jäger aus und richtete sein Gewehr gegen den Wolf. Jetzt mischte sich die Großmutter ein und zog den Jäger in die Küche, wo sie ihm einen frischen Kaffee bereitete und ein Stück von dem Kuchen, den Rotkäppchen gebracht hatte, auf einen Teller legte und ihm hinschob. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und konfrontierte den Wolf.

»Warum provozierst du immer den Jäger?« Fragte sie den Wolf.

»Ich bin doch nicht der, der hier ständig mit dem Gewehr herumfuchtelt!« Regte sich der Wolf auf.

»Da hat er recht, der Wolf«, mischte sich Rotkäppchen ein.

»Du jetzt? Ehrlich? Nachdem, was ich für dich getan habe?« Regte sich Großmutter auf.

»Der Wolf wird doch noch eine Frage stellen dürfen«, entgegnete Rotkäppchen.

»Das war keine Frage!« Rief der Jäger aus der Küche und kam zurück ins Wohnzimmer.

»Das muss ein Jäger aushalten«, sagte der Wolf und grinste.

Sie stritten eine Weile und kamen einander nicht näher, im Gegenteil, der Streit zwischen Wolf und Jäger wurde lauter und lauter, bis Großmutter den Jäger wieder am Arm fasste und aus dem Zimmer zog. Beide setzten sich zurück an den Küchentisch, der Jäger biss in den Kuchen, nahm einen großen Schluck aus der Kaffeetasse, und Großmutter freute sich über seinen guten Appetit.

Rotkäppchen sah sich alleine mit dem Wolf im Wohnzimmer und lächelte ihn verlegen an. Der begann zu gähnen und meinte, die ganze Streiterei habe ihn müde gemacht, und er wolle sich zurück ins Bett legen. Rotkäppchen folgte ihm, und als sie den Wolf so gemütlich in Großmutters Bett sah, mit der Decke bis zur Schnauze und den Kopf tief im Polster, hob sie die Decke ein wenig und kuschelte sich neben ihn. 

So lagen sie zufrieden nebeneinander, und der Wolf schien bereits eingeschlafen zu sein, als er sich plötzlich aufrichtete, sein Maul aufriss und das Rotkäppchen verschlang. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf, hörte zwar noch wie sich Großmutter und Jäger in der Küche amüsierten, konnte jedoch nicht verstehen, worüber sie lachten und begann sehr bald laut zu schnarchen. 

Doch diesmal hörte ihn der Jäger nicht. Er scherzte in der Küche mit der Großmutter, die sich fröhlich an die Vorbereitung des Mittagessens machte, und dachte, eigentlich sieht sie noch sehr gut aus für eine Großmutter.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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