ERINNERN

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Photo: Sebastian Indra, CC BY-NC 2.0

Die Unfähigkeit zu trauern

In den letzten Tagen versuchte das offizielle Österreich sich zu erinnern. Nicht, dass es etwas vergessen hätte und nun in Unterlagen, Dokumenten und im Gedächtnis suchen müsste, um zu finden, woran erinnert werden sollte. Es ging eigentlich um Bekanntes, an das schon öfters erinnert wurde. Doch aufgrund des Ereignisses fühlten sich Republik, ihre politischen Vertreter, jene, die vom Ereignis direkt betroffen sind, und alle anderen, die glauben, bei dieser Erinnerung eine wichtige Funktion übernehmen zu müssen, verpflichtet, entsprechend zu erinnern.

Das Wort ‚Erinnern’ hat diese teuflisch doppelte fast widersprüchliche Bedeutung, so dass es eine passive Form der Besinnung bedeuten könnte, oder die eher aktive Form der Mahnung. Beides hat in unterschiedlichen Situationen seine Berechtigung und kann je nach Ereignis seinen Sinn haben. In dieser Woche ging es um den Holocaust und die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen. Ich wiederhole mich, wenn ich zu dem Schluss komme, dass ‚Erinnern’ hier der falsche Begriff sein könnte, denn an die Befreiung von Mauthausen wird jedes Jahr erinnert, seit es befreit worden ist.

Gehen wir zurück zur doppelten Bedeutung des Wortes, dann könnte es in der einen oder anderen Richtung vielleicht doch Sinn ergeben. Versteht man die Veranstaltung als Ehrung der Überlebenden, so gibt man ihnen die Möglichkeit, Erlebnisse wiederzugeben, die sonst niemand mitteilen könnte. Die meisten Häftlinge in Mauthausen wurden ermordet oder starben an Schwäche und Krankheiten, viele von ihnen beendeten im Steinbruch durch Selbstmord ihr Leben.

Die wenigen heute noch lebenden Opfer waren damals Kinder oder Jugendliche, und es muss sie ein Leben lang das Grauen der Zeit im Lager begleitet haben.

Ihre Erinnerungen sind wichtig. Als Zeitdokument, aber auch als Information für die nächsten Generationen. Das Holocaust Museum Yad Vashem in Jerusalem hat dazu hervorragende Arbeit geleistet und Hunderttausende dieser Erlebnisse dokumentiert und gesammelt. Das Museum ist die wichtigste ‚Erinnerungs-Stätte’ der Welt, und kein Staatsgast in Israel wird seinen Besuch beenden, ohne das Museum gesehen zu haben.

Österreich hat kein vergleichbares Museum. Verschiedene Organisationen bemühen sich mit Archiven und Dokumentationen, der Erinnerung gerecht zu werden, doch eine zentrale Institution der Erinnerung gibt es nicht. Warum es keine gibt, wäre eine berechtigte Frage und könnte von den politisch Verantwortlichen jener Parteien beantwortet werden, die seit 1945 in den verschiedenen Regierungen sitzen. Viele Jahrzehnte hätten vor allem SPÖ und ÖVP dazu Zeit gehabt.

Die letzte große Koalition unter der Kanzlerschaft der SPÖ konnte sich nicht einmal auf ein Denkmal in Maly Trostinez einigen, wo Zehntausende Wiener Juden ermordet wurden – unter ihnen meine Tante und meine Großmutter. Zahlreiche Freiwillige erinnern seit Jahren immer wieder an diesen Massenmord und forderten die verschiedenen Regierungen auf, sich hier ‚erinnerungsgemäß’ zu verhalten und den Nachkommen der Opfer zu vergewissern, dass die Ermordeten nicht vergessen sind.

Das ‚Sich-Besinnen’ auf diesen Teil der Wiener Bevölkerung war ihnen nicht wichtig genug. Es betraf sie auch nicht. In keiner Regierung – mit Ausnahme von Kreisky – waren jemals die Nachkommen der Ermordeten vertreten. Politische Karrieren österreichischer Juden existieren nicht, da waren Mitgliedschaften bei den Nationalsozialisten oder der SS weitaus hilfreicher.

Viel wichtiger für Erinnerungs-Veranstaltungen schien da die zweite Bedeutung des Wortes ‚Erinnerung’, denn es gab für die politisch Verantwortlichen, ihre Kollegen und Genossen und Angehörigen nichts zu erinnern. Mit der Erinnerung als Mahnung taten sie sich leichter. Das war eine aktive Form der Vergangenheitsbewältigung und konnte für jede aktuelle Situation passend eingesetzt werden. Es ging eigentlich nur mehr darum, jene zu finden, zu identifizieren und zu benennen, die ermahnt werden müssten. Oberlehrerhaft konnte man dann mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die während der Erinnerungs-Veranstaltungen erinnert werden mussten – sich selbst befreiend vom Mangel an Erinnerungsfähigkeit, da es ja für einen selbst ohnehin nichts zu erinnern gab.

Und hier sind wir am Ende dieser paar Zeilen bei dem Versuch, den Unterschied zwischen Köhlmeier und Brauer zu erklären. Woran sollte Köhlmeier sich erinnern? Da gab es offensichtlich nichts, das zu berichten gewesen wäre. Erlebnisse der eigenen Großeltern schienen nicht ganz zu den Erlebnissen der Opfer zu passen, sonst wäre er darauf eingegangen. Aus seiner erinnerungslosen Vergangenheit konnte also nur die Erinnerung als Mahnung resultieren, sonst existierte da nichts. Die Trauer der Erinnerung war ihm offensichtlich fremd, sonst hätte er aus dem Gedenken keinen politischen Angriff gemacht. Kalt und gefühllos polterte er los, denn es fehlte ihm die Fähigkeit zu Trauern und die Verzweiflung über Verlorenes.

Ganz anders reagierte Brauer. Er erinnerte sich und sprach über seine Erlebnisse. Wie ein netter Großvater sprach er voller Wärme, ohne Hass und Ärger über das Einst, das Jetzt und seine Hoffnungen für die Zukunft. Ein melancholischer, alter Mann, der mit all seinen Erinnerungen weniger verzweifelt wirkte als er junge, erinnerungslose Köhlmeier.

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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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