DIE NÄCHSTE GENERATION

D

Nichts wird schlechter werden

»Wieviel ist viermal fünfzehn?« Fragt ein vielleicht achtjähriges Mädchen mit brünetten Haaren, die ihr in der Mitte gescheitelt lose bis zu den Schultern reichen, einen Buben mit hellbrauner Hornbrille und einer Bürstenfrisur, blonden Haaren, die eingefettet wie Stacheln eines Igels emporragen und der ihr gegenüber in der Straßenbahn sitzt.

Er überlegt eine Zeitlang, dann flüstert ihm sein Sitznachbar, etwas kleiner und rundlicher mit dichten braunen Locken und einem Gesicht voller Sommersprossen etwas ins Ohr, er nickt und sagt: »Fünfzig.«

»Ha!« Das Mädchen lacht, und auch die beiden neben ihr lachen laut auf.

Sie sitzen in der Straßenbahn, Linie 38, von Grinzing ins Zentrum, drei Mädchen mir gegenüber zusammengedrängt auf einer Zweierbank. Neben mir drücken mich zwei Buben gegen das Fenster und versuchen trotz der großen Schultaschen, die eher wie Rücksäcke aussehen, genügend Platz auf einem Sitz zu finden.

»Wieviel ist 200 weniger 65?« Fragt sie weiter, und wieder flüstern die beiden Buben, bis einer sagt: »135«. 

»Stimmt!« Sagt das Mädchen, und der mit der Bürstenfrisur versucht seinem Nachbar ein ›High Five‹ anzubieten. Der versteht ihn jedoch nicht.

»Kann man 100 in drei gleiche Teile teilen, ohne ein Komma?« Ist die nächste Frage, und der Lockige der beiden Buben antwortet nach einige Zeit: »Nein, weil dreimal dreiunddreißig ist neunundneunzig, da fehlt eins.« Die drei Mädchen nicken begeistert, und eine klatscht sogar in die Hände.

»Jetzt kommst du dran! Frag mich was!« Fordert eines der Mädchen den Buben mit den Locken auf. Wieder flüstert der eine dem anderen ins Ohr, bis einer der beiden fragt: »Wieviel ist 36 dividiert durch sechs?«

»Das ist zu leicht, sechs natürlich«, antwortet ein anderes Mädchen und die drei lachen wieder. Als dann einer der Buben den anderen fragt, ob das auch stimmen würde, lachen die Mädchen noch lauter.

»Warte«, sagt der Lockige, denkt kurz nach und fragt: »Wenn ein Kilo Äpfel vier Euro kostet, und ein Kilo sind acht Äpfel, ich habe aber nur einen Euro, wie viele Äpfel bekomme ich?« Dann grinsen die beiden Buben, als wären sie sich sicher, die Mädchen würden nie die richtige Antwort finden. Diese reden leise untereinander, bis eine beginnt, im Rucksack etwas zu suchen. Doch der mit der blonden Bürstenfrisur greift nach ihrer Hand und sagt: »Ohne Handy!«

Wieder flüstern sie, bis zwei der Mädchen die dritte einfach auffordern, zu antworten und diese sagt zögernd, mehr fragend: »Zwei Äpfel?«

Die beiden Buben nicken und schweigen, nur der Jubel der drei Mädchen ist zu hören.

»Jetzt stellen wir wieder eine Frage«, sagt das Mädchen, das die Antwort auf die Frage der Buben nach den Äpfeln beantwortet hatte. Sie ist größer als ihre Freundinnen, trägt das blonde Haar mit einem Zopf. Sie beugt sich etwas vor und zeigt auf einen der Buben und fragt ihn: »Wieviel Sekunden hat eine Stunde?«

Der zweite Bub, der keine Brille trägt, der mit den Locken und Sommersprossen antwortet, das sei nicht fair, das sei zu schwer, und die beiden Buben sind sich einig, dass sie bei solchen Fragen nicht mehr weitermachen wollten.

»Was, das soll zu schwer sein? Das haben wir doch erst letzte Woche besprochen!« Regt sich dritte der Mädchen auf.

»Nein, das stimmt nicht«, antwortet der Sommersprossige, der andere greift ein und sagt: »Wir haben nur über Minuten und Stunden gesprochen.«

»Na, und wie viele Minuten hat eine Stunde?« Fragt die Große der drei Mädchen.

»Na sechzig, natürlich!« Antwortet der Bub mit der Bürstenfrisur.

»Und wie viele Sekunden hat dann eine Minute?« Fragt die Große weiter.

Die beiden Buben zucken mit den Schultern.

»Das ist doch nicht so schwer, auch sechzig, in der Zeit ist immer alles sechzig, Sekunden, Minuten, Stunden“, sagt die Kleinste der drei Mädchen. Ihr Gesicht ist dunkel, die großen Augen verlieren sich in einem fast schwarzen dunkelbraunen runden Fleck. Sie hat ein rundes Gesicht, lange, schwarze Haare, sieht einfach anders aus, spricht jedoch völlig akzentfrei mit dem leicht abgerundeten Wiener Dialekt, der die Wörter verkürzt und so typisch für die Sprache dieser Stadt ist.

»Sechzig, sechzig und wieder sechzig, und was ist mit dem Tag? Der hat vierundzwanzig Stunden und nicht sechzig, und der Monat hat dreißig Tage und auch nicht sechzig, und das Jahr hat zwölf Monate! Also stimmt das nicht mit der Zeit und immer nur sechzig! Ihr wollt uns doch nur zeigen, wie cool ihr seid, seid ihr aber nicht!« Unterbricht sie laut und aufgeregt der mit den Sommersprossen, und die beiden Buben lachen.

»Also gut, jetzt hab‘ ich mal eine Frage,« sagt der Lockige der beiden Buben. Die Mädchen schauen ihn neugierig an und warten gespannt, als würde er Schokolade verteilen.

»Wenn mein Vater sagt, im Auto also, wenn er fährt, hier darf man nur fünfzig fahren, und er wird langsamer, was heißt das eigentlich? Was meint er mit Fünfzig?«

Die Mädchen sprechen leise zu einander, die eine flüstert in das Ohr der Nachbarin, die wieder in das Ohr neben ihr, mit der Hand vorgehalten, doch keine antwortet. Die beiden Buben grinsen einander zu, und man sieht ihnen an, wie sehr diesen Augenblick genießen.

Doch dann scheinen sich die drei zu einigen und die Dunkle mit dem perfekten, leicht noblen Wiener Dialekt antwortet: »Dann darf er nur 50 Kilometer in der Stunde fahren.«

Die beiden Buben sehen einander an, reißen die Augen auf und machen überraschte Gesichter. Mit der Antwort hatten sie nicht gerechnet.

»Was heißt fünfzig Kilometer. Er führt mich in der Früh immer in die Schule, das sind keine fünfzig Kilometer und dauert auch keine Stunde, und da steht meistens ein Polizist und mein Vater wird langsamer und meint, hier darf man nur fünfzig fahren!« Sagt plötzlich der mit der Bürstenfrisur.

Das Mädchen, das ihm geantwortet hatte, fährt ihn an: »Du verstehst nicht einmal deine eigene Frage!«

»Nein, aber du weißt die Antwort nicht!« Der Bub wird lauter und will aufstehen, doch die beiden neben mir hatten sich in den Sitz gezwängt, so dass er nicht hochkommt.

»Wenn der eine Stunde lang fährt mit fünfzig, dann wäre er fünfzig Kilometer weit weg. Und dann ist er genauso schnell, wie wenn er nur drei Kilometer fährt!« Jetzt ist das Mädchen aufgestanden und schaut die beiden beiden Buben an. 

»Und? Verstehst ihr es jetzt?« Fragt sie die beiden. Die zucken mit den Achseln und antworten nicht, doch plötzlich sagt der Sommersprossige zu seinem Nachbar so laut, dass alle es hören konnten: „Die sind einfach blöd die drei.«

»Jetzt beruhigt euch aber«, mischt sich eine Frau ein, die im Gang steht, und ich sehe erst jetzt, dass der ganze Wagon voller Kinder und sie offensichtlich die Lehrerin ist. 

»Und übrigens Franz«, sagt sie noch zu den beiden Buben, »Klara hat das richtig erklärt mit der Geschwindigkeit, es sind immer die Kilometer, die man in der Stunde fahren würde, und das macht dann die Geschwindigkeit aus!«

Ich musste die nächste Haltestelle aussteigen und versuchte zwischen den Kindern durchzukommen. Als ich vor der Lehrerin stand sagte ich: »Keines der Kinder hat ein Handy in der Hand, die reden einfach miteinander.«

»Die sind bei uns verboten während der Schulzeit«, antwortet sie und schaut lächelnd auf meine Hand, in der ich meines halte. Als wäre ich einer ihrer Schüler, stecke ich es bevor ich noch aussteige in die Manteltasche.

Am Weg durch die Stadt musste ich an die Kinder denken, denen ich zugehört hatte, zwischen ihnen sitzend mit meinem Telefon in der Hand, ohne nur einmal darauf zu blicken, und sehe die drei Mädchen vor mir, eine als Ärztin, eine in einem wissenschaftlichen Labor, und die dritte vielleicht in der Uniform einer Polizistin. Dann versuche ich mir die beiden Buben vorzustellen, der eine als Pilot und der andere als Tennisspieler, der als Österreicher endlich einmal Wimbledon gewinnt, und bin zufrieden mit mir selbst, eine beruhigende Ruhe überkommt mich, einfach als Beobachter, unbeteiligt und ohne Verantwortung.

Die nächste Generation ist bereit zu übernehmen, was wir hinterlassen, und es wird sicher nichts schlechter werden. Im Gegenteil, sie werden es besser machen, Medikamente für unheilbare Krankheiten finden, die Städte lebenswerter gestalten, Klima- und Energiekrise bewältigen und neue sportliche Rekorde erreichen, Kriege beenden und andere verhindern. Ich wusste plötzlich, dass sie es schaffen würden, ignorierte den Klingelton meines Telefons und nahm mir vor, heute einfach durch die Stadt zu spazieren als ein Zufriedener, der sich um absolut nichts Sorgen macht, weil doch alles immer besser werden würde.

Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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