Kein Wort fällt in der Debatte um einen Inflationsausgleich öfter als »Gerechtigkeit«. Doch gerecht ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Gleichheit führt schnurstracks in die Hölle.
George Clooney und ich sind im selben Jahr geboren. Ich sag‘s ungern, liebe Leserinnen, aber würden Sie uns beide in derselben Bar sehen, würden Sie mich keines Blickes würdigen. Von wegen »innere Werte«, das Leben ist ungerecht. Schon von Geburt an.
Andererseits: Wer weiß schon, wieviel Sport Clooney betreibt, wie diszipliniert er sich ernährt, sprich, wie viel Mühe er täglich in sein Aussehen investiert. Spätestens ab Dreißig ist Aussehen nicht nur eine Frage der Gene, sondern auch der Lebensführung. Also ist das Leben vielleicht doch gerecht, wenigstens in der Bar?
Der Motor von Wohlstand und Fortschritt ist die Ungleichheit.
Was ist schon gerecht? Diese Frage ist bei Philosophen und Theologen gut aufgehoben. Gefährlich wird es erst, sobald Ideologen und Politiker sich ihrer annehmen. Schon Karl Popper wusste: »Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert stets die Hölle.« Dieser Versuch beginnt gewöhnlich mit einer absichtlichen Begriffsverwechslung: Gerechtigkeit bedeutet nicht Gleichheit, schon gar nicht Gleichheit im Ergebnis. Der Motor von Wohlstand und Fortschritt ist die Ungleichheit. Sie ist der Antrieb, Chancen wahrzunehmen, um die eigenen Lebensumstände zu verbessern.
Ein Hoch auf die Ungleichheit
Mehr als die Hälfte aller 400 Superreichen sind mit „Aufstieg durch Bildung“ zu Milliardären geworden. Laut Forbes sind rund 67 Prozent der 400 reichsten Menschen der Welt Selfmade-Milliardärinnen und Milliardäre. Davon sind fast ebenso viele in Armut aufgewachsen (10,4 Prozent) wie aus der Oberschicht stammen (11,5 Prozent). Fast jeder Fünfte kommt aus der Arbeiterklasse. Mit 59,6 Prozent bringt der Mittelstand mit Abstand die meisten extrem erfolgreichen Aufsteiger hervor.
Noch dramatischer als die Zahl der Milliardäre in den letzten Jahrzehnten gestiegen ist, ist die Armut in der Welt gesunken. Lebte noch in den 1960er Jahren mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in extremer Armut, sind es heute weniger als zehn Prozent. Vor zweihundert Jahren war das Verhältnis genau umgekehrt wie heute: 90 Prozent lebten in absoluter Armut. Tausende Jahre lang war Armut der Normalzustand der Menschheit, fast alle lebten unter ähnlich armseligen Umständen. In absoluten Zahlen beeindruckt dieser Fortschritt noch mehr. Heute leben rund sechs Milliarden mehr Menschen auf der Welt nicht in extremer Armut als 1950.
Hinter dem beispiellosen Zuwachs an Wohlstand steckt der globale Siegeszug des Kapitalismus. Dass er gerade im wohlhabenden Westen von so vielen als ungerecht empfunden wird, ist angesichts seiner Erfolgsbilanz erstaunlich. Freie Wirtschaft und der Schutz des Privateigentums münden zwangsläufig in Ungleichheit. Zugleich sind sie jedoch die Voraussetzung für persönliche Freiheit und gesellschaftlichen Wohlstand. Es ist kein Zufall, dass sämtliche Ideologien und Systeme, die Gleichheit mit Gerechtigkeit gleichsetzen, ohne Ausnahme in Diktatur und Armut führten.
Gleiche Chancen für alle
Wenn es schon nach der Ziellinie keine Gleichheit gibt, können wir doch wenigstens am Start gleiche Voraussetzungen für alle schaffen, oder? Was wie eine Frage an Radio Eriwan klingt, soll auch so beantwortet werden: Im Prinzip ja, außer die Menschen sind verschieden.
Wir alle sind mit anderen Talenten geboren und wachsen anders auf. So mancher Vorsprung an Begabung oder Herkunft ist ein Leben lang nicht aufzuholen. Dennoch muss eine vernünftige Gesellschaft alles daransetzen, die individuellen Fähigkeiten eines jeden Kindes bestmöglich zur Entfaltung zu bringen.
Österreichs Bildungsausgaben pro Schüler liegen im europäischen Spitzenfeld, dennoch schafft es das Land nicht, einem Drittel der Pflichtschulabgänger ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, um eine Lehre zu beginnen.
Auch das andere Ende des Bildungsspektrums bietet wenig Anlass für Nationalstolz. Unter den 200 besten Universitäten der Welt befinden sich in Österreich gerade einmal drei, die beste belegt Platz 124 (die Universität Wien).
Es ist genauso ungerecht, die Leistungsfähigsten und -willigsten nicht bestmöglich zu fördern, wie die Benachteiligten zu vernachlässigen. Obendrein ist beides eine monströse Verschwendung von gesellschaftlichem Potenzial, wirtschaftlichem Wachstum und persönlichen Lebenschancen.
Gerechtigkeit über Generationen
In den letzten Jahren gewann die Debatte um Erbschaftssteuern an Fahrt, bis hin zum Vorschlag, Hinterlassenschaften ab einem bestimmten Schwellenwert zu 100 Prozent zu versteuern und im Gegenzug jeden Menschen bei Geburt mit einem Grundvermögen auszustatten. Schließlich sei Erbschaft, so das Argument der Befürworter, ein Einkommen, für das keinerlei Leistung erbracht worden sei. Dieses Argument ist nicht nur faktisch falsch – natürlich wurde für das Vermögen eine Leistung erbracht und versteuert, nur eben von den Generationen davor –, sondern rüttelt überdies an den Grundfesten unserer Gesellschaft.
Über das eigene Leben hinaus für die Nachkommen zu sorgen, ist eine natürliche Triebfeder des Menschen und eine Kernfunktion von Familie. Es greift zu kurz, Hinterlassenschaften nur aus der Sicht der Erben zu betrachten. Aus der Perspektive der Erblasser ist es nichts anderes als Enteignung, sie ihres Rechts zu berauben, ihre Familie zu versorgen.
Gerecht ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.
Verhindert staatliche Willkür die Übertragung des eigenen Vermögens an die Nachkommen, bringt das nicht mehr Gerechtigkeit, sondern nur mehr Gleichheit in Armut. Die größten Vermögen – und die Grundlage jedes Sozialstaats – sind erfolgreiche Unternehmen. Viele davon sind über Generationen hinweg aufgebaut worden. Nichts ist gerecht daran, solche Familien-Leistungen zu zerstören oder in Zukunft zu verhindern.
Prohibitive Erbschaftssteuern führen unmittelbar zu Umgehungskonstruktionen und Kapitalflucht, mittelfristig verhindern sie den Aufbau international konkurrenzfähiger Unternehmen.
Gerechtigkeit als Propaganda
So verständlich der Wunsch nach Gerechtigkeit ist, so untauglich ist der Begriff als politisches Leitmotiv. Schon allein deshalb, weil jeder etwas anderes darunter versteht. Umso ärgerlicher ist der alltägliche Missbrauch des Begriffs für propagandistische Zwecke. Die Rufe nach posthumer Enteignung kommen aus derselben Ecke, die genauso laut nach immer noch mehr schuldenfinanzierter Wählerbestechung ruft. Die Sozialquote, also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP), stieg von 1990 bis 2021 von 26,1 auf 32,9 Prozent. Im selben Zeitraum stieg die Staatsverschuldung von 56,2 auf 82,3 Prozent des BIP. Seit Jahren übersteigen die Pensionszuschüsse aus dem Budget die Ausgaben für Bildung, Tendenz steigend.
Jede einzelne Maßnahme, die zu dieser Entwicklung führte, wurde mit »Gerechtigkeit« begründet. Was daran gerecht sein soll, den kommenden Generationen die budgetären Lasten gegenwärtiger Haushaltspolitik aufzubürden, bleibt das Geheimnis jener, die sie zu verantworten haben.
Zuerst erschienen im Pragmaticus.
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