DIE CORONOKRATIE

D

Aus dem Corona Tagebuch (6)

Wir erleben eine Entmündigung der Bevölkerung aus der Notwendigkeit heraus, dass sonst die notwendigen Maßnahmen nicht durchgesetzt werden könnten. 

Da sitzen wir nun in unseren Wohnungen, schauen auf die Bilder an den Wänden und wundern uns, warum wir das eine oder andere aufgehängt haben und es uns jetzt bei genauerer Betrachtung eigentlich gar nicht gefällt. Wir studieren die Umgebung in den eigenen vier Wänden, räumen Schreibtisch und Wäscheschränke aus, werfen Unnötiges weg, das sich seit Jahren stapelt oder in selten geöffneten Schubladen versteckt. Von der Küche mit der fünften Tasse Kaffee ins Wohnzimmer, wer Glück hat vielleicht auf die Terrasse in die Sonne, oder ins Schlafzimmer, weil man dort die Telefonate der Ehefrau oder den Fernseher nicht hört, vor dem die Kinder sitzen. Mit endlosen Kreisen durch die Wohnung, von einem Zimmer zum anderen, unrasiert, mit immer länger werdenden Haaren, manchmal nachdenkend, wieso innerhalb weniger Tage sich das Leben so verändert hat. 

Und es findet sich keine überzeugende Antwort, also versucht man es mit Fachleuten im Internet, in Talk-Shows, der Fachliteratur. Sucht die Virologen, Medizinern, Epidemiologen, die Ursachen für die Isolationshaft beschreiben, begründen und erklären. Und je mehr man versucht, sich zu informieren, desto mehr bröckelt das eigene Verständnis für die dramatischen Maßnahmen, doch man hält sie dennoch ein.

Politiker haben in diesen Zeiten völlig neue Rollen übernommen, sie retten Leben und da wir, so lange wir schreiben und reden und Kaffee trinken, noch zu den Lebenden gehören, auch uns. Ihre Sprache hat sich verändert, hat sich fast schon ins Gegenteil verdreht. Aus der Polemik gegen die Kritiker in der Opposition wurde ein Kampf gegen die Infektion, gegen die Viren, parteilose, ideologielose Gegner, auf die man sich nicht einstellen konnte, die überraschend angegriffen hatten und gegen die keine Erfahrung nutzbar war. Um Bestimmungen, Einschränkungen, Verordnungen glaubhaft gegenüber der Bevölkerung zu kommunizieren, wurde und wird immer mehr von Toten gesprochen, von Leben-Retten, manchmal sogar warnend, dass jeder Bürger/In bald jemanden kennen würde, der am Corona-Virus verstorben ist. 

Die Methode ist einfach und leicht zu verstehen: Die Bevölkerung sollte einfach Angst haben, in Panik geraten und sich fürchten, dass jeder sein/jede ihr Leben gefährden könnte, wenn die Richtlinien nicht befolgt werden würden. Die Verantwortlichen in der Regierung reduzierten das Volk zu Kindergärten und Schulen des 19. Jahrhunderts, in denen durch Drohung und Strafe Disziplin durchgesetzt wurde, und sich selbst zu den allmächtigen Erziehungsberechtigten. Wir erleben eine Entmündigung der Bevölkerung aus der Notwendigkeit heraus, dass sonst die notwendigen Maßnahmen nicht durchgesetzt werden könnten. 

Jahrzehnte lange Demokratie, persönliche Freiheiten, Menschenrechte und Meinungsfreiheit hat uns nicht verändert. Lehrpläne der Schulen lehren die Freiheit, doch wir sind die Sklaven unserer Bedürfnisse, unserer Lust und unserer Gier, gedrängt vom Verlangen, auf der Grundlage unserer eigenen Logik, Entscheidungen zu treffen und die der Fachleute zu ignorieren. Wer geglaubt hat, dass im Gegensatz zu Diktaturen, wo Menschen nie den Entwicklungsprozess zur Demokratie von Generation zu Generation durchgemacht und erlebt hatten, in westlichen Systemen andere Methoden zur Durchsetzung überlebenswichtiger Maßnahmen eingesetzt werden könnten, wurde eines Besseren belehrt. Da gab es kaum Unterschiede. 

Wir sind keine vernünftigen, selbstständig denkenden Demokraten, nur weil wir wählen oder in Zeitungen unkontrollierte Texte veröffentlichen dürfen. Der Mensch hat sich nicht so unterschiedlich entwickelt in Demokratien und Diktaturen, er/sie ist durch die Freiheiten kein anderer/keine andere geworden. Einschränkungen des Alltags, Verhaltensregeln und Verfügungen, die der Gesundheit dienen, werden so lange ignoriert, bis sie mit Drohungen und Strafen erzwungen werden müssen – sowohl in der Diktatur als auch in der Demokratie.

Wo bleibt also dieser neue ›freie Mensch‹? Wo die neue demokratische Identität des in Freiheit aufgewachsenen Menschen? Wie eine Horde Schafe auf der eingezäunten Wiese bewegen wir uns, immer ängstlich auf den Wachhund starrend, ob wir die Begrenzung überschritten haben und uns der Wachhund in den Käfig zurückjagt. Wir, in Europa aufgewachsen, hier zur Schule gegangen, unterscheiden uns wenig von anderen, die in Diktaturen lebten. Wir alle brauchen die Warnung, die Mahnung, die Bestrafung, den diktatorischen Befehl mit drohenden Konsequenzen, damit wir Verordnungen respektieren und befolgen. 

Nehmen wir also zur Kenntnis, dass diese Erziehungs- und Disziplinierungsmethoden einfach notwendig sind, und reduzieren wir uns zu ungezogenen Minderjährigen, die nur durch Drohung und Einschüchterung kontrolliert werden können. Wenn dem so ist, stünde uns dann nicht auch die Belohnung zu, wenn wir uns gut benehmen? Wenn plötzlich Methoden der Diktaturen eingesetzt werden, um das Verhalten der Menschen zu planen und zu kontrollieren, warum nicht auch die verordnete Freude und das organisierte Glücksgefühl?

In Diktaturen hat man sehr wohl an die Freude gedacht. Die begeistert lachenden Gesichter der jungen Frauen im Spalier während der NS-Zeit, wenn Hitler an ihnen vorbeifuhr. Der organisierte Volks-Sport im Kommunismus, die Erste-Mai-Aufmärsche mit jubelnden Massen dem Genossen Stalin zuwinkend, und dazu das ideologisch-gesteuerte Kulturleben, die ›Kraft durch Freude‹ Bewegung, B. Brecht in den Staatstheatern der DDR, der Rotarmisten-Chor sind einige Beispiele, wie autoritäre Regierungen versuchten, den Druck auf die Bevölkerung durch geplantes Vergnügen auszugleichen.

Das fehlt derzeit von der das Volk beschützenden Regierung, die in Zeiten der Demokratie uns mit diktatorischen Maßnahmen im Zaum hält. Das mit der Angst haben wir schon begriffen, und verhalten uns auch danach, aber wo ist der Spaß, der uns zwischendurch aufatmen und vergessen lässt? Wo sind die belohnenden Vergnügungen, die man uns gewährt? Wie wollen unterhalten und nicht nur erzogen werden. Uns fehlen Verordnungen, die auf den beiden Waagschalen den Zwang immer mit Vergnügen in einem Balanceakt halten.

Deshalb eine Bitte an die Regierung: Lernt von autoritären Systemen, wie man eine Bevölkerung auch in der Demokratie bei Laune halten könnte, sie unterhält und fröhlich und begeistert die Verordnungen befolgen lässt. Man kann nicht nur Diktion und Methoden zur Einschränkung des täglichen Lebens übernehmen, das kippt und beginnt wie auf einer schiefen Ebene im Ungleichgewicht zu enden. Wir wollen Spaß im Leben, auch in den schwierigsten Zeiten. Dann wird es auch leichter sein, Bestimmungen zu verlängern oder Verschärfungen durchzusetzen, weil sie dann mit einem Lächeln, einer gewissen Freude und Gelassenheit eingehalten werden.


Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER


Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

Curriculum Vitae

Publications