Lieber weg damit
Unsere Gesellschaft fordert eine makellose, perfekte moralisch-ethische Verpackung. Wie am Fließband in der Qualitätsprüfung eines Unternehmens, das Kartoffeln, Semmeln oder Tennisbälle herstellt, sitzen Frauen und Männer links und rechts des Laufbands und beobachten, was – bereits vorsortiert und gewaschen – nun die letzte, entscheidende Kontrolle überstehen muss.
Jeder dunkle oder helle Fleck oder sonstige Farbveränderung und Unregelmäßigkeit, das heißt, jeder Verdacht einer Abweichung von der geforderten Norm, wird durch geschulte Augen sofort erkannt und das ganze Produkt landet im Abfall – auch wenn der Rest noch verwendet werden könnte. So wird in mehreren Schritten verhindert, dass Schadhaftes die Öffentlichkeit erreicht. Am Ende des sich langsam bewegenden Fließbandes sitzt die oberste Kontrollbehörde, ein verdienter Mitarbeiter, dessen durch die jahrelangen Kontrollen geschärften Augen das Produkt so genau, konzentriert und mitleidlos untersuchen, dass selbst die kleinsten Fehler, die vorherige Kontrollsysteme übersehen hätten, sofort erkannt werden.
Längst hat man die Geduld verloren, mühsam im Internet ein zerbrochenes Ersatzteil zu finden oder am Telefon in der Warteschleife auf Antwort der Serviceabteilung zu warten. Produkte werden immer billiger zu kaufen und immer teuerer zu reparieren. Also lieber wegwerfen und austauschen.
Und dennoch, manchmal nützt das alles nichts, und ein perfektes Produkt stellt sich als mangelhaft heraus, reagiert in bestimmten Situationen überraschend und unberechenbar und läuft Gefahr, dem System, das es repräsentiert, zu schaden. Dann muss schnell reagiert werden, um den übersehenen Fehler durch entschlossenes Handeln zu korrigieren. Da gibt es keine Reparaturen, Korrekturen oder Entschuldigungen. Nichts kann einen dunklen Fleck auf dieser Weste wieder hell machen.
Die Wegwerfgesellschaft macht keinen Unterschied mehr zwischen nicht funktionierenden Personen und Produkten. Die moralischen Sortiermaßnahmen entsprechen dem System der Korrektur- und Reparaturverweigerung einer Gesellschaft, die nicht nur Waschmaschinen austauscht, wenn etwas nicht funktioniert, sondern die Ersetzbarkeit auf Menschen überträgt.
Zeigt eine öffentliche Person ein Fehlverhalten, ein verstörendes Statement, eine ungewöhnliche Meinung in einem Interview, eine tabu-verletzende Veröffentlichung auf Facebook oder sonst einer Bühne der Social Media, greift die immer vorhandene, nie institutionalisierte Kontrollbehörde ein und entscheidet, ob die Abweichung noch zulässig ist oder eben nicht. Für die Klassifizierung der Abweichung gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens, sondern eine Hierarchie von Kontrollbehörden und Institutionen, in denen relativ unklar die Machtverhältnisse verteilt sind. Irgendwer entscheidet irgendwann, dass eine Verurteilung und ein Austauschen der Person notwendig geworden und eine Veränderung oder Richtigstellung nicht mehr möglich ist. Ein Nachwässern nützt dann nichts, die Pflanze wird aus der Erde gerissen und einfach weggeworfen.
Die Vergessenen
Sie werden schnell vergessen, die Aussortierten. Wer kennt schon die Namen der Zurückgetretenen, die nach einer oft erfolgreichen Laufbahn von der medialen und öffentlichen Bildfläche verschwinden. Was bleibt, ist das Siegesgeheul jener, die den Rücktritt forderten und letzten Endes durchsetzten. Denn es gibt kaum einen größeren gesellschaftlichen Erfolg, als einen unliebsamen Gegner aus dem System oder einen Helden von der Bühne zu verdammen, wie ein Läufer auf dem Schachbrett, der den Turm vom Brett stößt.
Historisch gesehen gehört der Ausschluss aus der Gesellschaft zu den ältesten Konfliktlösungsmethoden. Die ersten waren Flucht und Kampf, später fand man zum Delegieren an eine höhere Ebene wie den König oder das Justizsystem, um eine direkte Konfrontation zu verhindern, am vorläufigen Ende stehen Kompromiss und Dialektik als höhere Form der Auseinandersetzung. Von der Methodik her leben wir immer noch in der Urzeit der Konfliktlösungen.
Derzeit wird der Rücktritt als vorbildhafte Methode der Konfliktlösung bewundert, gelobt und erwartet. Im Gegensatz zur Entlassung gilt er immer noch als halbwegs ehrenvolle Form der Aussortierung aus einem System, das ein einst wichtiges Teil der Organisation zum wertlosen, nicht mehr passenden Puzzle-Stück erklärt. Historisch ist er zwischen Flucht und Kampf einzuordnen, daher eine archaische, ziemlich primitive Form der Problemlösung. Korrektur oder Verbesserung im Zuge einer gemeinsam erarbeiteten Veränderung werden nicht erwartet, sondern eher als Niederlage für jene empfunden, die den Rücktritt fordern. Eine Entschuldigung für ein Fehlverhalten wird selten akzeptiert, eine Änderung wird nicht erwartet – im Gegenteil, sie würde dem Vorurteil widersprechen, dass sich der zur Aussortierung Auserwählte ändern und damit seiner Bestrafung, der Aussortierung, entkommen könnte. Mit der Aussortierung wird der einst wertvolle Baustein zum Abfall erklärt, die störende Nutzlosigkeit wird ausgeschieden.
Selektionsmechanismen
Im Sinne der Entwicklung einer Gesellschaft von den einfachen Dorfgemeinschaften über die Aristokratie zur modernen Demokratie gab es die Unterbrechungen durch Diktaturen, die einen gewissen Reinigungsprozess als Grundlage der Entwicklung der Gesellschaft forderten und auch durchsetzten. Faschismus, Nationalsozialismus, Islamismus, Kommunismus und andere diktatorische Systeme entdeckten die Notwendigkeit der »inneren« Säuberung, um den Fortschritt nicht zu gefährden und der »Idealgesellschaft« näher zu kommen. Sie definierten eine Zukunftsgesellschaft und schufen komplizierte Selektionsmechanismen, um Aussortierte zu eliminieren oder zumindest vom »gesunden« Teil der Gesellschaft fernzuhalten.
Genial beschrieben hat diesen Mechanismus George Orwell im Buch »1984«, in dem der Held nicht nur gezwungen wird vor seiner Hinrichtung alle bisherigen Ideen und Vorstellungen aufzugeben, sondern auch den neuen Führer zu »lieben«. Den Machthabern in »1984« genügt es nicht, die Fremdkörper auszusortieren und zu töten. Sie müssen alte Ideen und Denkweisen verurteilen und neue annehmen – und werden erst dann ermordet, wenn sie von der neuen Ideologie überzeugt sind.
Die moderne Entwicklung der so genannten »Ausschluss-Demokratie« geht daher nicht einen Schritt weiter in der Entwicklung des Zusammenlebens der Menschen, sondern ein paar Schritte zurück. Eines der Kennzeichen einer Diktatur ist immer das Abtrennen des »ungesunden« Anteils einer Gemeinschaft, ob das nun politische Gegner, Anhänger einer anderen Religion, Behinderte, Verrückte, Fremde, Schwarze, Gelbe, Braune, oder sonstige willkürlich definierte Störfaktoren sind, die den »gesunden Volkskörper« unnötigerweise belasten.
Ähnlich funktioniert unsere »neue Demokratie« in Bezug auf oft willkürlich definierte Tabuverletzungen, die als Messlatte für Aussortierung aus dem gesellschaftlichen Prozess dienen. Statt Menschen nach angeblichem oder realem Fehlverhalten zu integrieren, also einen Entwicklungsprozess auszulösen und Änderungen zu ermöglichen, wird aussortiert, bestraft und verdammt. Das so reduzierte und gereinigte Volk kann aufatmen, das System wurde gerettet durch Abtrennung des kranken Körperteils, der zum nutzlosen Organ erklärt worden war – wie bei der Entfernung eines entzündeten Blinddarms. Die Reinigung wird als Sieg gefeiert von jenen, die den »Schmutz« entdeckten und die Säuberung forderten, wobei die Entdeckung, oft selbstgefällig und eitel als Aufdeckung vorgetragen, schon den halben Sieg bedeutet.
Post-Faschismus
Während der Begriff »Integration« zum Zauberwort einer neuen gesellschaftlichen Vielfalt erhoben wurde, übt man sich gleichzeitig in der kompromisslosen Verdammung moralisch-ethischen Fehlverhaltens. Absurde, der modernen demokratischen Gesellschaft widersprechende Verhaltensweisen von fremden Kulturen oder Religionen werden geduldig hingenommen und als veränderbar definiert, ihre Vertreter als belehrbar und erziehungsfähig beschrieben, um eine Aussortierung zu verhindern. Vom Establishment wird verlangt, dass es sich anpasst an die neuen, fremden Kulturen, deren Lebensformen und Traditionen. Gleichzeitig überwacht das gleiche System besessen und kleinlich die Vertreter und Mitglieder des Establishments in der Hoffnung, Abweichungen sofort »aufzudecken«.
Dieser moderne gesellschaftliche Reinigungsprozess hat keine rationalen Grundlagen wie die Trennung von Plastik und Metall in der Müllverarbeitung. Ein und dieselbe Verhaltensweise kann als fremde, religiöse oder kulturelle Tradition entschuldigt, und im nächsten Moment als unverzeihlicher Fehltritt oder als Verbrechen angeprangert werden.
Nach Überwindung von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus entwickelt sich die moderne Demokratie mehr und mehr zu einer post-faschistoiden Kontrollgemeinschaft, in der Denunziation als Heldentat gefeiert wird. Die Vergleiche mit den dreißiger Jahren sind lächerlich im Zeitalter moderner Kommunikationsmethoden. Der neue Faschismus kommt von jenen, die vorgeben, die Demokratie mittels Reinigung durch Denunzierung verteidigen zu müssen, während sie intellektuelle und substantielle Vielfalt selektiv als Bedrohung erleben und Dialog und Kompromiss durch die Kampfmethode der Aussortierung ersetzen.
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