DAS SCHAFFT UNS

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Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Während des Studiums verdiente ich etwas Geld mit der Verbesserung von Arbeiten meiner Kollegen und Kolleginnen. Ich versuchte weniger, Inhalte zu hinterfragen und Argumente zu überprüfen, sondern übertrug meist deren Weisheiten in verständliches Deutsch, kürzte Sätze, tauschte Adjektive und Verben aus und ersetzte Fremdwörter, die den Texten einen Hauch von Intellektualität verleihen sollten, mit deutschsprachigen Wörtern.

Eines der Wörter, die ich jedes Mal durchstrich und ersetzte, war das Wort ›Wir‹, mit entweder ›meine Kollegen/Kolleginnen und ich‹, oder nur ›ich‹, oder mit der Beschreibung, wer sonst gemeint sein könnte. Kam das Wort ›Wir‹ zu oft vor, versuchte ich es mit Humor, um zu erinnern, dass eine persönliche Meinung nicht verallgemeinert, und nicht jeder x-beliebigen Person in den Mund gelegt werden sollte. Ich machte einen * neben dem ›Wir‹ und schrieb als Fußnote: ›Wir‹ bedeutet: Ich und mein Hund. Dieser harmlose Scherz führte dazu, dass Autor/Autorin sehr schnell mit dem ›Wir‹ aufhörte und entweder ›ich‹ schrieb oder die Gruppe genauer definierte.

An dieses ›Wir‹ erinnerte mich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, als sie am Höhepunkt der Flüchtlingskrise für sich in Anspruch nahm, im Namen aller in Deutschland Lebenden zu sprechen, und auch noch halb Europa mit ihrer Einladung an die Flüchtenden in die Verpflichtung nahm: »Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das.«

Das Ergebnis dieser Bereitschaft auf Kosten anderer waren zwischen 2015 und 2017 etwas 2 Millionen Flüchtlinge, wobei die deutsche Bürokratie von ›Schutzsuchenden‹ sprach, ohne den Unterschied zu einem Flüchtenden näher zu erklären. Vielleicht übertrug sich das Trauma, einst andere vertrieben zu haben, auf die sprachliche Korrektur, nun von Schutzsuchenden zu sprechen, die in dem einstigen Land der Vertreiber Schutz suchten.

Rationale und weniger rationale Konsequenzen

Die Konsequenzen dieser Entscheidung könnten in zwei Bereiche geteilt werden: 

  • Die rational-sachlichen Konsequenzen, wie finanzielle Unterstützung, Wohnungsproblem, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Schulpolitik, Sicherheit und Terrorismus, Familienpolitik, Frauenrechte, Religionsfreiheit und andere messbare Veränderungen.  
  • Der irrationale Effekt, der Einfluss auf die gesellschaftliche, politische und demokratische Entwicklung. 

Zum ersten Themenbereich gibt es offizielle Statistiken und Untersuchungen. Mit einem Aufwand von über zwanzig Milliarden Euro pro Jahr zwischen 2016 und 2019 hat wohl niemand in Deutschland gerechnet, und auch andere Länder in Europa haben die Belastungen unvorbereitet getroffen. Mit diesen finanziellen Mitteln hätten möglicherweise die Flüchtlingslager rund um Syrien in blühende Städte verändert werden können, mit Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern, und damit wäre nicht nur jenen geholfen, die über bezahlte Schlepper nach Europa kamen, sondern auch den Verzweifelten, die in den Flüchtlingslagern zurückblieben.

Weitere messbare Konsequenzen sind die Steigerung der Kriminalität, der überproportionale Anteil von Ausländern in Gefängnissen, die negative Entwicklung in Bereichen wie häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen, gegen Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften, der große Anteil von nicht-deutsch sprechenden Kindern in Schulen und der hohe Prozentsatz an Arbeitslosen unter den Flüchtlingen.

Der zweite Bereich ist mit Statistiken und Zahlenmaterial schwierig zu belegen, und könnte eher mittels Beobachtung, Analysen und Untersuchungen beschrieben werden. Es ist eine Tatsache, dass ein großer Teil der deutschen und auch österreichischen Bevölkerung die sogenannte Willkommenskultur unterstützte. Ebenso berechtigt ist der Vorwurf, dass eine kritische Position dagegen nicht akzeptiert wurde.

Die Kanzlerin verurteilte eine Debatte über ihre Entscheidung als unehrenhaft und moralisch verwerflich, und verordnete damit zum ersten Mal nach 1945 gewissermaßen ein Diskussionsverbot über ihre eigenen politischen Entscheidungen. Unvergessen ihr Satz: »Die Zahl derjenigen, die heute für Flüchtlinge da sind, die Zahl der Helfenden, die Zahl derjenigen, die fremde Menschen durch die Städte und Ämter begleiten, sogar bei sich aufnehmen, überragt die Zahl der Hetzer und Fremdenfeinde um ein Vielfaches.«

Als Folge dieser Erklärung wurde die demokratische Entwicklung Deutschlands um Jahre unterbrochen und mit der Gründung der AfD der Einzug einer rechtsextremen Partei in die Parlamente ermöglicht. Die Bemerkung beeinträchtigte nicht nur den öffentlichen Diskurs, sondern weitaus dramatischer die Funktion und Verantwortung der freien und unabhängigen Medien, die ihre Kontrollfunktion gegenüber der politischen Macht von einem Tag zum anderen aufgaben. 

›Kritischer‹ Journalismus konzentrierte sich plötzlich auf die Regierungs-Kritiker, denen nicht etwa falsche Argumente oder die Verbreitung falscher Informationen vorgeworfen wurden, sondern in einem peinlichen Akt der Kniefall-Berichterstattung übernahmen Journalisten die Sprache der Kanzlerin und verdammten die Zweifler. 

Aus einer ›richtig-oder-falsch‹ Auseinandersetzung entwickelte sich eine ›gut-oder-böse‹ Bewertung, wie sie eigentlich nur in Diktaturen üblich ist. Entweder der brave, anständige, helfende Deutsche und Unterstützer der Kanzlerin, oder der Hetzer, Verleumder und Fremdenfeind auf Seiten der Kritiker. Die Debatte verschob sich auf ein Kindergartenniveau über die Frage wie man sich benehmen sollte, und es hätte nur mehr die Forderung gefehlt, dass sich die Zweifler strafweise nach jedem Einwand für fünf Minuten in die Ecke stellen müssten.

Versagen der Medien 

Parallel zur Verdammung jeder Kritik an der ›Offenen-Tür-Politik‹ wurden Ereignisse wie die Übergriffe in Köln verschwiegen oder völlig falsch dargestellt, Kriminalstatistiken gefälscht, die Herkunft von Tätern unterdrückt oder manipuliert. Man sah sich zurückversetzt in die dunkelsten Zeiten deutscher Medien-Kultur und Obrigkeits-Treue deutscher Journalisten und Journalistinnen während der NS-Zeit und der DDR. Medien-Macher unterschätzten allerdings die Reaktionen der Menschen, die die falsch beschriebenen Ereignisse und manipulierten Konsequenzen der Flüchtlings-Aufnahme miterlebt hatten, und dann erstaunt die Informationen im TV sahen oder in den Printmedien lasen. Es entwickelte sich ein berechtigtes Misstrauen und ein dramatischer Verlust der Glaubwürdigkeit der Medien und eine Entfremdung gegenüber einem ganzen Berufsstand. 

Parallel dazu die Veränderung der politischen Stabilität mit der Gründung der AfD. Diese Partei konzentrierte ihre Propaganda auf die Migrationspolitik und sammelte damit ohne weiteres politisches Programm die Wähler hinter sich. Im Sinne der Simplifizierung von Politik wurde die AfD zur Nazi-Partei‹ erklärt, und damit jede sachliche Diskussion der Vor- und Nachteile und auch Folgen der Willkommenspolitik verhindert, da eine inhaltliche Übereinstimmung mit den Forderungen der AfD den Verdacht und Vorwurf eines Naheverhältnisses zu Rechtsextremismus zur Folge hatte.

Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Wohnungs-, Sprach- und Schulprobleme könnten durch strukturelle Eingriffe des Staates beeinflusst werden, und mit dem entsprechenden Einsatz würde das »Wir schaffen es‹ vielleicht zu einem ›Wir haben es geschafft‹ werden. Problematisch allerdings ist der Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung, wenn eine junge Demokratie wie die Deutsche durch autoritäres Gehabe in Zusammenarbeit mit den Medien in die Pflicht genommen und Kritik auf moralischer Ebene verurteilt und verdammt wird.

Wenn es möglich ist, bestimmte politische Entscheidungen aus dem gesellschaftlichen Diskurs per Dekret auszuklammern, oft mit dem Hinweis, man habe eine ›historische‹ Verpflichtung, dann muss die Überlegung erlaubt sein, ob diese Gesellschaft nicht auch für andere ›Beschlüsse‹ ebenso als funktionierendes Kollektiv manipuliert werden könnte.

Zuerst erschienen in NEWS. 


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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