DAS GERÜCHT ÜBER ISRAEL

D

Der alte Antisemitismus ist gesellschaftlich geächtet – der neue ist Teil der öffentlichen Meinung. Zeit zum Umdenken.

Der Antisemitismus sei das Gerücht über die Juden, schrieb Theodor W. Adorno in den »Minima Moralia.« Sein Satz zielte auf den alten Antisemitismus von rechts ab, der über Jahrhunderte auf christlichen und rassistischen Wurzeln gewachsen ist und den geistigen Boden für die Shoa bereitet hat. Schon immer warf man Juden Gerüchte vor, die man über sie in die Welt gesetzt hatte, und schon immer lieferten diese Gerüchte den Vorwand für Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung. 

Doch ob »Gottesmörder«, »Brunnenvergifter« oder »Parasiten«: Wer es in die Welt setzt, schafft das Gerücht, nicht derjenige, über den es in die Welt gesetzt wird. Das Gerücht ist so unerbittlich wie der Vernichtungswille der Nationalsozialisten. Weder durch persönliche Verdienste noch durch Patriotismus, Assimilation oder Konvertierung konnten Juden ihrer Verfolgung entrinnen. Und es gibt nichts, was das Opfer des Gerüchts tun könnte, um es aufzuhalten.

Dieser Antisemitismus nährte auch den Wahn von Stephan Balliet, den Attentäter von Halle, er ist immer noch vorhanden und immer noch gefährlich. Aber er ist, zumindest außerhalb der islamischen Welt, gesellschaftlich geächtet und kann nur mehr im Verborgenen gedeihen. Kein angesehenes Mitglied der Gesellschaft könnte sich öffentlich zu ihm bekennen. Keller-Nazis heißen Keller-Nazis, weil sie das Licht der Öffentlichkeit scheuen (müssen).

Der »Jude unter den Staaten«

Der neue Antisemitismus ist das Gerücht über Israel. Er macht Israel zum »Juden unter den Staaten«, wie der französische Historiker Léon Poliakov es formulierte, nimmt Juden in aller Welt in Geiselhaft und macht sie zur Zielscheibe. Der israelbezogene Antisemitismus löst den alten nicht ab, er kommt neu hinzu. Doch im Unterschied zum Antisemitismus der Kellernazis wird er tagtäglich von Medien und Politik genährt.

Israel ist ebenso wenig ein »Apartheid-Staat« wie die Juden das Anderl von Rinn ermordet haben. Der jüdische Staat hat aus dem Gaza-Streifen ebenso wenig ein »Freiluftgefängnis« gemacht, wie die Juden Brunnen vergiftet haben. Und Israel hat das Land, auf dem seine Bürger leben, von denen mehr als 20 Prozent arabische Muslime sind, ebenso wenig gestohlen, wie »jüdische Parasiten« das deutsche Volk ausgesaugt haben.

Selbst wenn sie »Ich habe nichts gegen Juden, viele meiner besten Freunde sind Juden, aber …« sagen, Klezmer-Musik hören und pflichtbewusst oder aufrichtig betroffen der Shoa gedenken, tun notorische »Israel-Kritiker«, was Antisemiten seit jeher tun: Sie streuen das Gerücht über die Juden. Politisch verkleidet als Gerücht über Israel.

Das Gerücht hat Folgen. Diejenigen, denen es politisch und moralisch Deckung gibt, schreiten auch zur Tat. Nachdem die deutschen Terroristen der Revolutionären Zellen (RZ) Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann zusammen mit palästinensischen 1976 eine Air-France-Maschine nach Entebbe (Uganda) entführt hatten, um die Freilassung von insgesamt 53 Inhaftierten aus Gefängnissen in Israel, Frankreich, der BRD und der Schweiz zu erpressen, trennten sie die jüdischen von den nicht-jüdischen Geiseln. Die nicht-jüdischen ließen sie frei.

Die erste Selektion von Juden nach Auschwitz folgte der nationalsozialistischen Logik: Weder Staatsangehörigkeit, Religion oder persönliche Geschichte sollten über Leben und Tod entscheiden, sondern die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. Jeder einzelne jüdische Passagier wurde in Geiselhaft genommen. In der Nacht zum 4. Juli 1976 bewiesen israelische Spezialeinheiten mit der Befreiung der 106 Geiseln, dass Israel nicht nur ein sicherer Hafen, sondern auch eine Schutzmacht für alle Juden der Welt ist.

Kein Einzelfall

Auch das Motiv für die jüngsten Angriffe auf die Grazer Synagoge und den Präsidenten der Jüdischen Gemeinde Graz, Elie Rosen, im heurigen Sommer liegt im Gerücht über Israel. Und die Attacken sind kein Einzelfall, Vorfälle wie dieser häufen sich in ganz Europa seit Jahren.

Eine Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) unter 16.395 Juden in Europa kam 2018 zum Befund, dass ein sorgenfreies jüdisches Leben in der EU nicht mehr möglich sei. Rund 89 Prozent gaben an, der Antisemitismus sei in ihrem Heimatland seit 2013 gewachsen. 28 Prozent waren im Jahr vor der Umfrage antisemitisch belästigt oder angegriffen worden, 38 Prozent überlegten gar, auszuwandern. Manche Vorfälle würden gar nicht mehr als judenfeindlich wahrgenommen, weil sie so oft zu beobachten seien.

Antisemitismus benennen

Jeglicher Kampf gegen Antisemitismus bleibt halbherzig, solange das Gerücht über Israel nicht ebenso geächtet wird wie das Gerücht über die Juden. Wenn die UNO Israel öfter verurteilt als den Rest der Welt zusammen, dann streut sie ein antisemitisches Gerücht. Wer Israel als »Apartheid-Regime« verleumdet, streut ein antisemitisches Gerücht. Wer Israel einseitig als Täter und die Palästinenser als Opfer hinstellt, streut ein antisemitisches Gerücht. Und wer dem Gerücht nicht entgegentritt, hilft bei dessen Verbreitung.

Bedauerlicherweise ist die europäische Politik Teil des Problems statt Teil der Lösung. Die einseitige Parteinahme für die palästinensische Führung schadet nicht nur dem Friedensprozess und nimmt der palästinensischen Bevölkerung jede Hoffnung, sich irgendwann von ihren korrupten und gewalttätigen Eliten befreien zu können. Sie gefährdet immer mehr auch die Juden in Europa. »Jetzt sehen Sie endlich, wie es den Palästinensern unter den Israelis geht«, musste Elie Rosen nach dem Anschlag auf ihn lesen, wie er dem Autor dieser Zeilen kürzlich erzählt hat. Auch eine Ungeheuerlichkeit wie diese speist sich aus dem Gerücht über Israel.

In seinen Folgen ist Antizionismus immer antisemitisch. So wichtig es ist, der Vergangenheit zu gedenken: Wer nicht über den israelbezogenen Judenhass reden will, möge über den Antisemitismus schweigen.

Der Kommentar wurde zuerst in der WIENER ZEITUNG und danach auf MENA-WATCH veröffentlicht.


Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER


Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.