BREXIT IN GUILDFORD

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Das Brexit Tennis Doppel

Im oft schon erwähnten Tennisklub in Guildford, der Universitätsstadt südlich von London, bekämpfen einander Mittwoch und Freitag Vormittag die alten Herren in Doppel-Formation, um die weit entfernten Ecken des Tennisfeldes zu vermeiden, die man bei einem Single-Spiel kaum noch vor dem Ball erreichen würde.

Der Klub ist so organisiert, dass meist zwei Felder nebeneinander liegen, und so spielte ich letzten Freitag mit einem Partner gegen zwei andere, die alle zufällig nach Ankunft der Spieler ausgewählt werden, da es keine fixen Teams gibt.

Auf dem Platz neben uns spielten ebenfalls vier ältere Herren gegeneinander, als plötzlich deren Spiel durch laute Stimmen unterbrochen wurde und auch unsere Gruppe aufhörte. Nun muss man berücksichtigen, dass Tennis in Großbritannien ein nobler Sport ist im Gegensatz zu Fußball, vielleicht nicht ganz so nobel wie Kricket, aber definitiv dem Rugby weit überlegen. Nur bei Pferderennen zeigt schon die Kleidung der Zuseher, dass dies eigentlich kein Massensport ist, und man die Angelegenheit eher unter sich genießt.

Am Platz neben uns lag ein zerbrochenes Racket, offensichtlich zu Boden geschleudert, ein merkwürdiges Ereignis in einem Klub, wo selbst jedes Fluchen untersagt ist, und man sich nach dem Spiel freundlich die Hände reicht, selbst wenn einer der Spieler ständig Bälle als out erklärt hat, die mitten auf der Linie landeten.  

Nach Unterbrechung unseres Matches gingen wir vier langsam zur anderen Gruppe und hörten lautes Schreien, und als wir näher kamen, konnte ich einen der Spieler verstehen, er hieß Robert, war schlank und groß mit buschigen Augenbrauen, und arbeitete früher in Schottland in der Ölindustrie und er sagte laut und wütend: »Du zerstörst die Zukunft unserer Kinder!«

»Im Gegenteil! Ich rette sie!« Schrie ihn George an, ein Rechtsanwalt, klein und rundlich mit roten Flecken im Gesicht, der nur mehr zweimal die Woche Klienten empfing.

Nun mischte sich der dritte Spieler ein, Frank, der als Postmeister ein Postamt in der Nähe von Guildford geleitet hatte und immer wieder das Tennis unterbrechen musste, um sich an sein neues Gelenk an der Hüfte, am Knie oder sonst wo zu gewöhnen.

»Ich habe ja nichts gegen den Austritt, aber alles sollte ordentlich vorbereitet und organisiert sein. Mit so einem Chaos hat doch keiner gerechnet!« Aus ihm sprach eben der Postamtsdirektor, der seine Ordnung liebt.

Gleichzeitig sprach Gary, der ein kleines Bauunternehmen leitete und wegen Zuckerkrankheit und Herzproblemen relativ früh seine Pension antrat, aber immer noch zwei bis dreimal die Woche Tennis spielte. 

»Raus aus dem Verein, sage ich! Koste es, was es wolle! Ich will mir weder von den Deutschen noch von den Franzosen mein Leben organisieren lassen!« Auch er sprach ungewöhnlich laut, und über sein weißes Gesicht rannten Schweißtropfen, die nicht vom Tennisspielen kommen konnten.

Nun ging es Schlag auf Schlag, als stünden die vier am Netz und würden durch die kurze Distanz zwischen ihnen die Bälle hin und her flitzen.

Frank: Labour hätte es viel besser verhandelt, wir brauchen Neuwahlen.

Gary: Du spinnst ja! Der Corbyn will den Sozialismus hier einführen.

Frank: Also bitte, halte dich zurück, ich erinnere an den Code of Conduct in unserem Klub!

Robert: Code of Conduct ist dir wichtig, und die Zukunft unserer Kinder nicht? Wo sie einmal arbeiten und vor allem Arbeit finden könnten?

George: Das Volk hat gewählt, also soll es auch geschehen, sonst sind wir unglaubwürdig als Demokratie.

Robert: Demokratie? Diese massive Manipulation nennst du Demokratie? Mit Lügen und Versprechungen, die nie eintreffen werden?

Gary: Jetzt machst du dir Sorgen um die Jugend? Warum sind sie nicht zur Wahl gegangen? Zuerst die Abstimmung ignorieren und sich dann über das Ergebnis beklagen, so geht das nicht bei uns in England.

Statt Dialogen übertönte ein Gewirr aus Stimmen und aufgeregten Antworten den Tennisplatz, lauter und lauter wertend.

Frank: Wir brauchen Neuwahlen, Labour würde es besser verhandeln mit der EU.

Gary: Schon wieder Labour. Das sind Kommunisten! Begreifst du das nicht!

George: Na, na, na…übertreib mal nicht…

Robert: May ist das Problem, die hätte längst zurücktreten sollen…

Frank: Und? Wer wäre besser geeignet?

Gary: Nichts wie raus aus dem Verein…

Frank: Das sollte doch alles seine Ordnung haben…

Robert: Die Mehrheit heute will bei der EU bleiben…

George: Das Volk hat entschieden….

Gary: Wir wollen unsere Selbständigkeit zurück…

Es kam der Punkt, an dem sie erkannten, dass sie alle vier gleichzeitig sprachen, und keiner mehr den anderen verstehen konnte. Wir vier vom anderen Platz standen etwas entfernt von ihnen, jedoch nah genug, um alles hören zu können. Wir schwiegen betroffen und verwundert über die erregte Diskussion, die eigentlich keine war, da jeder mehr vor sich hin redete. 

Plötzlich blickte Frank zu uns und sagte: »Was macht ihr hier? Warum spielt ihr nicht?«

»Wie soll man sich auf Tennis konzentrieren können bei diesem Zirkus!« Sagte einer von uns. Es war Max, der Klubpräsident, der selbst einmal im Britischen Parlament saß, eine Autorität in dem Verein. Jetzt schwiegen alle.

Max sah plötzlich zu Boden, starrte auf seine Tennisschuhe, die schon lange nicht mehr weiß waren, schüttelte den Kopf, blickte mich an und sagte leise mit fast trauriger Stimme: »Man müsste sich eigentlich bei dir entschuldigen, aber das ist Großbritannien heute, leider…«


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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