BRENNPUNKT SCHULE

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Traum- und Problemlehrer werden nicht geboren, sondern gemacht

Eine Mathematiklehrerin an einem Gymnasium in Wien steht unter Beschuss der Eltern und der Medien. Sie soll sich abfällig über die Begabung von Schülern geäußert und den Besuch des WC während der Unterrichtsstunden verboten haben.

»Die Spitze eines Eisberges! Hoffentlich wird hier ein Exempel statuiert!«
»Endlich haben es Eltern gewagt, sich gegen die Allmacht einer Lehrperson aufzulehnen!«
»Hinaus aus der Schule mit solchen Menschenschindern!«
Seltener, aber doch auch ist zu vernehmen: »Vielleicht nimmt diese Kollegin lediglich ihre Unterrichtstätigkeit sehr ernst, und es gehen ihr fallweise die Nerven durch, was beim mittlerweile bekannten mission-impossible-Unterricht Mathematik nicht weiter verwunderlich wäre!«

Wie wahr! Mathematiklehrer sind die am häufigsten von Burnout betroffene Gruppe unter den Lehrern! Mathematik ist der zentrale Grund für die Schulangst der Schüler, das Fach verschlingt mehr Nachhilfegelder als alle anderen Unterrichtsgegenstände gemeinsam. Die Universität und die TU Wien beklagten letzten Sommer die mangelnden Fähigkeiten der Maturanten(!) in den Grund(!!!)rechnungsarten. Ohne Zweifel – es ist vieles faul im Mathematik-Haus Österreich!

Drei Problembereiche sind für diese offensichtliche Krise ausschlaggebend:

1. Der Lehrstoff in Mathematik

Mathematik ist der letzte Gegenstand gewesen, der unter dem Druck der industriellen Revolution Eingang in das klassische Humboldt‘sche Gymnasium gefunden hat – dies gegen den erbitterten, aber erfolglosen Widerstand der Geisteswissenschaftler. Rechnen hat lange als »primitiv« gegolten. In Form eines Pendelschlages und aus einem Kompensationsmoment heraus erlangte der Mathematikunterricht in der Schule geradezu eine »Richterfunktion«: Wer in Mathematik Probleme hat, galt und gilt zu oft generell als dumm und unbegabt, dies ungeachtet der Stärken in anderen Bereichen. 

Der Lehrstoff nicht nur der Oberstufe ist für die Mehrheit der Schüler unter den derzeitigen Rahmenbedingungen kaum bis nicht  leistbar. Auch positiv benotete Schüler gestehen ein, dass sie die Inhalte auswendig lernen, aber so gut wie nichts davon wirklich verstehen, um nach vollbrachter Schularbeit möglichst rasch alles wieder zu vergessen. Das Wissen, dass sie den Großteil des Auswendiggelernten niemals im Leben brauchen werden, ist der Langzeitmotivation höchst abträglich.

Mathematik als traditioneller »Leitgegenstand«: Seltener als einst, aber doch, trifft man heute noch auf Mathematiklehrer, die mit stolzgeschwellter Brust tönen: »Wir Mathematiker sind die Wichtigsten in der Schule, denn vor uns haben die Schüler die größte Angst.«

Trotz ernsthaften Bemühens um eine »freundliche Mathematik« etwa in Kärnten, ist dieser Unterrichtsgegenstand auch dort ein Angstfach geblieben. Der Umstand, dass die heutige Halbtagesschule mit früheren Elternaufgaben – verschiedenste »Erziehungen« über Straßenverkehr und Geschlechtsleben, Taschengeld»management«, gefahrenfreie Ernährung etc. – überfrachtet ist, bewirkt neben anderen systemischen »Erkrankungen« der Schule wie Projektitis und Reformitis, dass weder Raum, Zeit noch Aufmerksamkeit für das unverzichtbare, regelmäßige und konzentrierte (!) Üben der Basics Lesen, Schreiben und Rechnen bleibt. 

So verwundert ist nicht, dass Mathematikunterricht heute über weite Strecken zur sprichwörtlichen »mission impossible« geworden ist – was heute auch der Großteil der betroffenen Lehrpersonen eingesteht. Was nicht nur im Zusammenhang mit Mathematik künftig zu diskutieren ist, ist die Rolle der Eltern. Sie sind in den letzten Jahrzehnten schleichend von ihrer gesetzlich festgelegten Mitverantwortung für den Schulerfolg ihrer Kinder entbunden worden. Dies muss sich ändern – auch wenn dies manche als »retro« empfinden mögen!

2. Das extrem unterschiedliche Unterrichtskönnen der Lehrer

»Ja, es ist mein Traumberuf, an dieser Schule zu unterrichten! Es ist aber jahrelange harte Arbeit an mir selber gewesen, bis mir das Unterrichten zum Traumberuf geworden ist!« Also spricht eine Lehrerin, die eben eine Traumstunde in Chemie hingelegt hat – und zwar an jener »Brennpunktschule« in Wien, an der laut einer schriftstellernden Kollegin unserer Traumlehrerin aufgrund der hohen Anzahl muslimischer Schüler angeblich so gut wie kein störungsfreier und geregelter Unterricht möglich ist.

Man weiß aus weltweit übereinstimmenden Studien, dass das Gelingen von Schule zu rund 90% dem individuellen Können, also der Unterrichts»kunst« jedes einzelnen Lehrers  zu danken ist. Unterricht IST Kunst, denn er gelingt dann, wenn jede Lehrperson zu ihrer Authentizität, also zu ihrer Unterrichts-Individualität findet. Und Individualität ist eines der wenigen unstrittigen Merkmale von Kunst!

3. Der Schulverwaltungssaurier

Will man außerhalb Österreichs einen verlässlichen Heiterkeitserfolg landen, dann erzählt man von der Struktur der heimischen Schulverwaltung – von der weltweit einzigartigen vielstufigen Hierarchie, die im internationalen Vergleich für ein Volk von 66 Mio. Einwohnern dimensioniert ist, aus den 1780ern stammt, und die ursprünglich für den Geheimdienst, also für das Spitzelwesen, konzipiert worden war. Man erzählt davon, dass wie weiland der Monarch heute der Bundespräsident die Anstellungsdekrete von Direktoren und Inspektoren unterzeichnen muss – von »Staatsdienern« also, die er nicht kennt und die er auch nie im Leben persönlich kennenlernen wird. 

Für Kopfschütteln sorgt im Ausland die Praxis der österreichischen Bildungspolitik, die bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder Schulgesetze beschlossen hat, ohne für jene Finanzmittel zu sorgen, die zur sinnvollen und flächendeckenden Verwirklichung der beschlossenen Gesetze notwendig wären. Dieses lückenhafte Vorgehen hat die verhängnisvolle heimische Disziplin »so tun, als ob« hervorgebracht. 

Aufgrund der Summe dieser Umstände sind die Schulbehörden auch nicht dazu in der Lage, einer Problemlehrerin jene Aus- und Weiterbildung – oft geht es gar um Umschulung, da in der Pädagogenbildung oft Veraltetes und immer wieder schlichtweg Falsches gelehrt wird – zu ermöglichen, die erfolgreiches Unterrichten sichern würden. Das »Strukturelement Schulbehörde« ist aufgrund des Kompetenzirrgartens oft auch über Jahrzehnte hinweg nicht dazu fähig, die Schüler vor nachhaltig uneinsichtigen Problemlehrern zu schützen.

Doch auch dies muss gesagt werden: Keine Lehrperson ist  absichtlich, aus Jux, Tollerei oder aus Sadismus ein Problemlehrer! Problemlehrer werden so wie Traumlehrer nicht »geboren«, sie werden durch glückliche oder eben durch tragische Umstände »gemacht«! Glückliche Problemlehrer gibt es nicht.

Was ist zu tun?

Die Lösungen sind denkbar einfach. Im Rechen- bzw. Mathematikunterricht muss das regelmäßige Üben und Wiederholen wieder zur Norm werden, und spätestens in der Oberstufe muss es weiterführende, anwendungsorientierte »Basismathematik für alle« und den Freigegenstand »Höhere Mathematik für künftige Technikstudierende« geben.

Eine künftige Pädagogenbildung muss auf die Anforderungen vor der Klasse, also ganz konkret auf »Bedarf und Wirksamkeit im Unterrichtstun« Bezug nehmen, was zumindest im angloamerikanischen Raum bewirkt, dass die Mehrzahl der dortigen Lehrer lebenslang und eigenmotoviert fortbildungsinteressiert bleibt. 

Der Staat hat sein schmerzlich dysfunktionales diktatorisch/monarchistisch geprägte Schulsystem endlich vom »Kopf auf die Füße zu stellen«, indem er die Durchführung von Schule in kontrollierter Autonomie auf die Bürgerebene verlagert, der Bund einen knappen Gesetzesrahmen vorgibt, und die Länder ohne Behördenfunktion Serviceleistungen bieten – Multiplikation von best practice, sinnvolle, professionell (!) geplante und vorbereitete schulübergreifende Projektarbeit, Hilfestellungen, wo Hilfe gewünscht wird und nötig ist!

Und der berüchtigte WC- Besuch während der Unterrichtsstunden? Auch dieser ist zumindest zum Teil ein Problem des Systems, wie übrigens auch die oft beklagte Unpünktlichkeit vieler Lehrpersonen. In angloamerikanischen Schulen dauert keine Pause kürzer als eine Viertelstunde, denn an »stadtteilgroßen« Schulen, die es auch in Österreich gibt, ist es schlichtweg nicht möglich, in den traditionellen Fünfminutenpausen zeitgerecht von einer in die andere Klasse zu gelangen oder ein entlegenes WC aufzusuchen. So entsteht für Lehrer massiver Stress, noch bevor der Unterricht überhaupt begonnen hat. 

Dies alles weiß man seit Jahrzehnten. Verschuldet wird all das durch ein versteinertes System – Härtegrad 10 PLUS der zehnteiligen Mohs’schen Härteskala für Mineralien! Die nachhaltige Behebung der Probleme wird nur durch eine betont sachliche, partnerschaftliche, allparteiliche, und plangeleitete Kooperation von Zivilgesellschaft, Sozialpartnern und Bildungspolitik gelingen. Dass Letztere allein auf sich gestellt damit überfordert ist, haben die vergangenen Jahrzehnte gezeigt.

Mittlerweile wissen alle Player & Stakeholder, was vordringlich zu tun ist: die Lehrpersonen stärken, die ausgeuferte Schulverwaltungshierarchie »entstören« und den Mathematikunterricht in das Jetzt & Heute führen! Machen wir es endlich – gemeinsam!

Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erschien zuerst in der Wiener Zeitung.


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Über den Autor / die Autorin

Ernst Smole

Prof. Ernst Smole ist Leiter des NIKOLAUS HARNONCOURT FORUMS WIEN. Er hat Musik in Graz, Lugano und Weimar studiert (Dirigieren, Cello, Musikpädagogik) und war Berater der Unterrichts- und Kunstminister Sinowatz, Moritz und Zilk. In der auslaufenden Legislaturperiode wurde Prof. Smole mehrfach als unabhängiger Referent in Ausschüsse des Parlaments berufen (Bildungsfinanzierung, Schulautonomie, Inklusion, Politische Bildung). Seit den 1990ern befasst er sich intensiv mit Bildungssystemen unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise, insbesondere mit dem jüdischen.
Aktuell koordiniert Prof. Smole die Arbeit eines 50köpfigen multidisziplinären Teams am BILDUNGSPLAN/ UNTERRICHTS:SOZIAL : ARBEITS & STRUKTUR:PLAN FÜR ÖSTERREICH 2015 - 2030.

Von Ernst Smole