Zeuge der Anklage: Der Österreicher Erwin Lahousen
Zwei Jahre vor Ende des Krieges, im November 1943 in Teheran, sprachen Stalin, Roosevelt und Churchill über die Möglichkeiten, die Verantwortlichen für den Zweiten Weltkrieg strafrechtlich zu verfolgen. Die pauschalen Verurteilungen in Versailles nach dem Ersten Weltkrieg sollten nicht wiederholt werden. Die Sieger beabsichtigten diesmal gezielt gegen einzelne Personen vorgehen, um die persönliche Schuld für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dokumentieren und die Verantwortlichen zu bestrafen.
Stalin hatte einen einfachen Vorschlag: »Wir erschießen alle deutschen Kriegsverbrecher, und zwar mindestens 50.000!« Churchill sei angeblich empört von seinem Stuhl aufgesprungen, der nach hinten umkippte und habe lautstark protestiert: »Niemals! Das britische Volk wird einen solchen Massenmord nicht billigen!«
Roosevelt, der schon aufgrund seiner Erkrankung nicht aufspringen konnte, versuchte es mit einem Kompromiss, und sagte lächelnd: »Na gut, dann erschießen wir halt nur 49 500.« So beschrieb Elliott Roosevelt, der Sohn des US-Präsidenten, das Gespräch in seinen Erinnerungen.
Erst im Juni 1945 einigten sich die Siegermächte auf einen Prozess gegen 24 Hauptangeklagte, nachdem Stalin eingesehen hatte, dass gegen 50.000 keine einzelnen Verfahren durchgeführt werden konnten. Hitler und Himmler waren bei Prozessbeginn bereits tot, Gustav Krupp nicht verhandlungsfähig, so blieben 21 Vertreter des NS-Regimes auf der Anklagebank.
Zeugen bleiben geheim
Die Namen der Zeugen blieben aus Sicherheitsgründen geheim. Weder die Angeklagten noch ihre Anwälte oder Journalisten kannten sie, und niemand ahnte, dass der Österreicher Erwin Lahousen, Edler von Vivremont, 1897 in Wien geboren, der erste und wichtigste Zeuge der Anklage sein würde.
Insgesamt werden 270 Zeugen einvernommen, 2630 Dokumente vorgelegt und 27.000 Meter Tonbandprotokolle. 250 Journalisten beobachten den Prozess, unter ihnen bekannte Schriftsteller wie der Amerikaner John Dos Passos, der Russe Ilja Ehrenburg, der Deutsche Erich Kästner und Willy Brandt, der für eine norwegische Zeitung berichtet.
Am 10. Tag der Verhandlungen zeigen die Ankläger Dokumentar-Filme von Erschießungen und Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern und kündigen am Ende des Tages für den nächsten Morgen den ersten Zeugen an. Niemand kümmert es, da Generaloberst Lahousen nicht zu den bekannten Namen der NS-Elite gehört und keiner im Saal ihn persönlich kennt. Lahousen übernahm im Jänner 1939 als Oberstleutnant die Leitung der Abteilung II der Abwehr im militärischen Nachrichtendienst und arbeitete gemeinsam mit Admiral Wilhelm Canaris am Aufbau einer Widerstandsgruppe. Canaris führte ein Tagebuch über sämtliche Treffen mit hochrangigen NS-Vertretern, »…dessen Sinn und Zweck es sein sollte, der Nachwelt einmal jene in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, die damals die Geschicke des deutschen Volkes gelenkt haben«, wie er in der Einleitung erklärte.
Abteilung II ist für Attentate und Sabotage hinter der Frontlinie im Feindesland verantwortlich, und da alle ihre Aktionen streng geheim sind, kann sich Lahousen ungehindert zwischen den Fronten bewegen und Vertreter feindlicher Armeen und Geheimdienste treffen. Bereits vor Beginn des Krieges informiert Lahousen die Franzosen über den Plan der Deutschen, die Tschechoslowakei zu besetzen und Polen zu überfallen. Sein Kontakt ist die französische Agentin Madeleine Bihet-Richou, doch ihre Berichte klingen derart absurd, dass sie niemand ernst nimmt. Die Gruppe um Canaris plant mehrere Attentate auf Hitler, die alle scheitern. Für weitere Beförderungen von Lahousen ist ein Fronteinsatz Bedingung. Er wird im August 1943 als Leiter des Geheimdienstes abgelöst, an die Ost-Front geschickt, im Juli 1944 verwundet und als ›frontuntauglich‹ erklärt.
Kurz vor Ende des Krieges findet die Gestapo das Tagebuch von Admiral Canaris. Er wird verhaftet, gefoltert und am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg hingerichtet. Mehrere Mitglieder der Gruppe Canaris erleiden das gleiche Schicksal, unter ihnen sein Stellvertreter, Hans Oster, und der Jurist Hans von Dohnanyi. Oster arbeitet von Beginn an im Widerstand und informiert die Alliierten über die bevorstehende Besetzung der Niederlande. Auch ihm glaubt niemand. Während der Zerschlagung der Widerstandsgruppe liegt Lahousen schwer verletzt in einem Lazarett. Das rettet ihm das Leben.
Die Amerikaner, die Teile des Tagebuchs von Canaris finden, werden auf Lahousen aufmerksam. Er befindet sich nach Ende des Krieges in amerikanischer Gefangenschaft, verwundet, verbittert und verzweifelt. Der Gefängnispsychologe Gustave Gilbert versucht ihn zu überreden, beim Prozess auszusagen. Er begleitet ihn in eine Villa am Stadtrand von Nürnberg. Dort soll er für die Zeugenaussagen beim Prozess vorbereitet werden.
Die Villa der ungarischen Gräfin
Das Haus gehört einer ungarischen Gräfin, die Lahousen in ihren Erinnerungen als völlig gebrochenen, abgemagerten, kahlköpfigen, älteren Mann beschreibt, der immer wieder weinte und kaum ansprechbar gewesen sei. Chefankläger Jackson zweifelt an der psychischen und physischen Stabilität dieses so wichtigen Zeugen und fürchtet, er werde die aufreibenden Verhöre und Fragen nicht durchstehen.
Eine Woche vor Beginn des Prozesses macht der Gerichtspsychologe einen Vorschlag, um Lahousen zu stabilisieren und der Chef-Ankläger akzeptiert ihn. Am Wochenende vor der Einvernahme wird das Sicherheitspersonal aus der Villa abgezogen und Lahousen bekommt Besuch von einer unbekannten Frau. Sie zieht in sein Zimmer ein. Der Autor Harry Schaub, der viele Jahre später Lahousens Biographie schreibt, ist sich sicher, es sei die französische Agentin Richet-Bijou gewesen. Was immer an diesem Wochenende geschah, Lahousen tritt ruhig, konzentriert und selbstsicher am ersten Tag seiner Einvernahme vor die Vertreter der Anklage und wird einer der wichtigsten Zeugen in diesem Prozess.
In Vertretung seines Vorgesetzten Admiral Canaris hatte er an wichtigen Treffen der obersten Heeresführung teilgenommen, bei denen Hitler, Keitel und Außenminister Ribbentrop anwesend waren. Lahousen korrigiert die Propaganda der NS-Führung mit persönlichen Aufzeichnungen und Dokumenten: Polens angeblicher Angriff auf Deutschland – gelogen. Der Angriff auf Russland ein Präventivschlag – war als Vernichtungskrieg von Beginn an geplant. Die Bombardierung des Warschauer Ghettos, die Ermordung polnischer Intellektueller und sowjetischer Kriegsgefangener, das Niederbrennen polnischer und russischer Dörfer – Lahousen nennt Zahlen, Daten und Namen, bis die Angeklagten es nicht mehr ertragen, von ihren Sitzen aufspringen und zu Schreien beginnen. »Schwein, Verräter!« Tobt Göring.
216 Prozesstage später fällt das Gericht die Urteile. Die Aussagen, Tagebücher und Dokumente von Lahousen waren entscheidende Grundlagen für die Verurteilung.
Doch mit dem Nürnberger Prozess und seiner Bereitschaft auszusagen, endet das tragische Schicksal für diesen wichtigen Zeugen der Anklage nicht. Die Briten verhaften ihn, bringen ihn in das Verhörzentrum Bad Nenndorf und wollen Auskunft über die geheime Unterstützung der IRA, der irischen Terrorgruppe, die vom deutschen Geheimdienst mit Waffen und Sprengstoff beliefert wurde. Lahousen erzählt später in Interviews, diese Zeit habe ihn mehrere Zähne gekostet. Von dort holen ihn die Amerikaner ab, die ihn erst im Juni 1947 aus der Gefangenschaft entlassen.
Er zieht sich krank und gebrechlich nach Seefeld in Tirol zurück, übersiedelt 1953 nach Innsbruck, wo er 1955 stirbt. Keine Tafel und kein Straßenname erinnern an ihn. Er wird vergessen. Erst Sechzig Jahre später erscheint ein Buch über sein Leben, und er taucht in einem Film des ZDF über die Villa am Stadtrand von Nürnberg auf, wo auch andere Zeugen für den Nürnberger Prozess untergebracht wurden.
Zuerst erschienen in NEWS.
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann unterstützen Sie bitte die SCHLAGLICHTER