NICHTS IST MEHR SO WIE VORHER

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Aus dem Corona Tagebuch (14)

Im wiedereröffneten Stammcafé  in Wien sitzen zwei Freunde, oder besser ein Freund und seine Freundin, in der Sonne und trinken eine Melange und er einen großen Braunen. Beide Anfang Sechzig, er mit bereits grauen Haaren, die zu lang über den Kragen der Jacke hängen, und sie hell blond gefärbt, doch am Kopf, wo die Haare nachwachsen, drängt sich ebenfalls das Grau durch.

Sie blättern beide in Zeitungen, er im ›Standard‹, sie in der ›Presse‹.

Er: »Die sind nicht einmal imstande, eine Kulturpolitikerin aufzustellen, die auch was zusammenbringt, die Grünen sind eine einzige Enttäuschung!«

Sie: »Was hast du erwartet, das sind ja keine echten Grünen mehr, wenn die schon in der Presse  gelobt werden, kann was nicht stimmen.«

Er: »Was liest du auch die Presse?«

Sie: »Das war doch immer unsere Devise, wir müssen wissen, wie der Feind denkt!« Sie lacht. Er reagiert nicht und blättert weiter in seiner Zeitung.

Er: »Den Standard kann man auch nicht mehr lesen, da sind ja die Nachrichten von meiner Krankenversicherung interessanter.«

Sie: »Das war doch immer deine Lieblingszeitung, endlich eine kritische Tageszeitung, hast du immer gesagt.«

Er: »Das war einmal, jetzt ist alles anders, die Lunacek ist weg, und die nächste ist auch nicht besser, wozu die überhaupt in die Koalition gegangen sind. Wahrscheinlich eh nur wegen der Gehälter.« Er nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse und murmelt kaum hörbar, dass jetzt auch noch der Kaffee kalt sei. Er sucht nach dem Ober.

Er: »Lauter neue Ober, irgendwas stimmt nicht mehr hier, seit die wieder aufgemacht haben.«

Sie: »Ja, das hat was Depressives, find ich auch, da ist kein Mut mehr unter den Gästen, keine Stimmung mehr, die schauen alle so belämmert.«

Er: »Die sind im Corona-Schock! Das wird nie mehr wieder so wie früher. Hallo, Herr Ober!« Er winkt dem Ober, der näher kommt.

Ober: »Ja, bitte?«

Er: »Bringen’s mir einen frischen Kaffee, der ist schon kalt, einen großen Braunen. Aber mit ganz wenig kalter Milch, so wie immer. Wo ist denn übrigens der Herr Franz?«

Ober: »Franz? Kenn ich nicht.«

Er: »Natürlich kennen sie ihn nicht, der war ja nur 30 Jahre hier, und sie wahrscheinlich jetzt 3 Tage!« Der Ober schüttelt den Kopf und geht.

Sie: »Jetzt sei doch nicht so unfreundlich, simma doch froh, dass überhaupt einer hier arbeitet, wer will schon arbeiten heutzutage.«

Er sieht sich um im Café um und mustert die Gäste.

»Ich kenn niemand mehr, komisch, früher grüßte man sich, und auf jedem zweiten Tisch saß jemand, den man kannte«, sagte er, während er sich hin und her drehte.

Sie: »Du hast doch eh nur über jeden gelästert!« Sie lacht wieder, doch er bleibt ernst und versucht immer noch, jemanden zu erkennen.

Er: »Na sicher, darum geht’s doch, das war doch immer der Sinn des Cafés, dass man sich aufregt. Wie soll man sich über Fremde aufregen? Die sind mir ja alle völlig gleichgültig!«

Sie: »Jetzt mach ich mir wirklich Sorgen, wenn du nicht einmal mehr Lust zum Schimpfen hast!« Wieder lacht sie, und er macht ein verzweifeltes Gesicht.

Er: »Mir ist sogar die Freude am Schimpfen vergangen, weit hab ich’s gebracht, das Virus hat mir den letzten Schneid gestohlen.«

Sie: »Jetzt beruhige dich doch, genieß einfach die Sonne und deinen Kaffee, und dass du nicht mehr zu Hause sitzen musst.«

Er aufbrausend: »Das kann ich nicht, ich bin ja nicht im Café in Bibione an der Adria, hier muss man schlecht reden über die anderen!«

Sie lacht und sagt: »Na, wenn du keinen findest, kannst du ja über mich schimpfen.«

Er fährt sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn: »Nach sieben Wochen Isolationshaft hab‘ ich dir schon alles gesagt. Nicht einmal zu dir fällt mir was ein.«

»Hallo Georg, schön euch hier zu sehen, wie geht’s denn? Dem Virus ausgewichen?« Die beiden drehen sich um, hinter ihnen steht ein Paar, etwa so alt und ähnlich gekleidet. 

Ein kurzes Gespräch ergibt sich mit ›gut gehts uns‹ und ›wie habt ihr die Zeit verbracht‹ und ›war eigentlich toll, so richtig kreativ‹ und ›man hatte endlich Zeit für sich‹ und ›ich kenn‘ doch keine Langweile‹ und ›hab endlich mal Goethes Faust zu Ende gelesen‹ und ›mir tun ja Leute leid, die nichts mit sich anfangen können‹ und ›hätte ruhig länger dauern können‹ und ›nur die Politiker gehen mir auf die Nerven‹ und ›na was willst du von denen erwarten‹ und ›der Kurz glaubt, er ist jetzt der Kaiser von Österreich‹ und ›und die Rendi, nur mehr peinlich‹ und ›von den Grünen hab ich das nicht erwartet‹ und ›der Strache, einfach widerlich‹ und ›der totale Lock-Down war sowieso nur ein politisches Machtspiel‹ und ›was sagst du, wie die Schweden sterben‹ und ›lauter Idioten dort‹ und ›der Trump macht die USA kaputt‹ und ›na der Biden ist auch nicht besser‹ und ›das Land war doch schon vorher im Arsch‹ und ›Israel mit dem Netanyahu ist auch keine Demokratie, lauter Rechte‹ und ›die Wirtschaft wird sich nicht mehr erholen‹ und ›nichts wird mehr so sein wie früher‹ und ›jetzt kommt die Entschleunigung, da werden einige auf der Strecke bleiben‹ und ›die Multis werden wieder als Sieger rauskommen‹ und ›was macht ihr im Sommer‹ und ›ich weiß nicht, ob wir uns ins Haus in die Toskana trauen‹ und ›die Italiener haben dort alles kaputt gemacht‹ und ›wem kann man schon trauen mit den Infektionszahlen, die lügen doch alle‹ und ›hab‘ mir ein Rennrad gekauft, mit Elektromotor‹ und ›fühl mich noch richtig gut für mein Alter, aber hast von Robert gehört, total fett geworden‹ und ›die meisten haben sich einfach gehen lassen‹ und ›die Maria hat sich vom David getrennt, hat mich eh gewundert, dass es so lange gehalten hat‹ und ›der Manfred ist angeblich bankrott‹ und ›die Müllers mussten aus ihrer Wohnung, konnten die Kredite nicht mehr zahlen, haben sich einfach übernommen‹ und …

»Hallo, schau wer dort sitzt, die Steiners, tut mir leid, wir müssen weiter!« Das befreundete Paar unterbricht die Unterhaltung und geht zu einem anderen Tisch.

Nach einer Pause, in der weder sie die Zeitung liest, noch er den frischen, jetzt heißen Kaffee trinkt, den der neue Ober gebracht hatte, sehen die beiden einander an und beginnen zu lachen und plötzlich sagt sie: »Und das ist dir abgegangen?«


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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