Lola, 30.6.2013– 11.11.2023.

L

Sie war uns die beste vorstellbare Gefährtin. Vom Verlust eines Familienmitglieds.

Dies ist kein Nachruf, vielmehr das Bemühen, über den Verlust eines Familienmitglieds hinwegzukommen. Der Ausdruck Familienmitglied mag vielen befremdlich scheinen. Es war doch nur ein Hund. Und ich verstehe das. Für mich sind alle anderen Hunde auch nur Hunde. Manche mag man, manche gehen einem auf die Nerven und bei manchen hofft man eigentlich nur, dass ihr Besitzer die Leine nicht loslässt. Aber immer ist es »nur ein Hund«. Vielleicht verstehen Sie besser, warum ich von einem Familienmitglied schreibe, wenn Sie diese Geschichte zu Ende lesen.

Waiting for Lola

Lola war auch ein Hund, aber eben nicht nur. Sie war schon ein Wunschhund, bevor sie geboren wurde. Wir haben uns bewusst für ein Zwergpudelmädchen entschieden (Charakter, Größe, nicht allergen), haben die Züchterin ausgesucht, haben uns bei ihr vorgestellt, sie hat uns eines Sprößlings für würdig erachtet. Dann Warten. Die Nachricht von der Schwangerschaft. Erste Fotos des Wurfs. Wenige Wochen später die Entscheidung. Wieder ab nach Kufstein. Ein Rudel Welpen kommt auf uns zu, Freude überall. »Nehmt die mit der braunen Schnauze«, hieß es irgendwann. Haben wir gemacht.

Ab da war sie unsere Lola. Mit vollem Namen Lola in Red of Lovely Children. Genannt Hasi. Oder Lotti. Oder irgendwie anders. Was völlig egal war, sie wusste immer, wann sie gemeint war. Sollten Sie also vor der Anschaffung Ihres ersten Hundes stehen: zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Namensgebung, Sie werden ihn ohnehin anders rufen. 

Wir haben Bücher und Bettchen gekauft und erste Spielzeuge, haben Ernährungspläne erstellt und uns über die besten Futtermarken kundig gemacht. Waiting for Lola. Der Tag der Abholung musste wegen einer Salmonelleninfektion verschoben werden, mit einer Woche Verspätung machten wir uns wieder auf nach Kufstein. Lola war damals 13 Wochen alt, aber die Windeln trug das Herrchen in spe, sicher ist sicher (sie blieben zum Glück ungebraucht). Wir waren darauf vorbereitet, dass Welpen jammern, wenn sie von der Mutter wegkommen. So auch Lola. Aber nur bis zum ersten Kreisverkehr, dann ist sie einfach eingeschlafen. Da wussten wir: es wird gut mit uns. In unserer Wohnung angekommen, hat sie als erstes einmal ordentlich ins Wohnzimmer gepinkelt. Das gehört sich so, bekanntlich besiegeln Welpen damit den Bund fürs Leben.

Ein neuer Lebensabschnitt

Ein völlig neuer Lebensabschnitt begann. Nicht nur, weil man alle zwei Stunden raus muss (man muss den Bund ja nicht jeden Tag aufs Neue besiegeln), sondern weil da ein kleines süßes Wesen um einen herumscharwenzelt, das gnadenlos Aufmerksamkeit verlangt. Was sie bevorzugt durch Schmuse-, Schleck- und Sprungattacken zum Ausdruck brachte. Wir hatten immer den Eindruck, sie wäre gern ein Zweibeiner geworden, so oft tänzelte sie auf den Hinterpfoten. Andererseits: wenn man was von der Welt sehen will, muss man sich eben strecken. Zumal als Zwergpudel, das »Zwerg« im Namen kommt ja nicht von ungefähr.

Es hat ein wenig gedauert, bis sie beschlossen hat, ihr Geschäft nur mehr im Freien zu verrichten. Der Zeitpunkt war allerdings ungewöhnlich. Erstes gemeinsames Silvester. Wir waren nicht sicher, wie sie auf die Feuerwerke in Graz reagieren würde und haben beschlossen, den Jahreswechsel in Grado zu verbringen. Ist ruhig dort um diese Jahreszeit. Gebucht haben wir eine kleine Suite mit Terrasse im obersten Stockwerk – niemand will alle zwei Stunden mit einem Hund durchs Hotel laufen. Aber Terrasse, das würde für Notfälle klappen. Dachten wir. Lola hat am ersten Tag unserer Ankunft beschlossen, ab sofort stubenrein zu sein. Einfach raus auf die Terrasse? No way! Sie liebte es, am Sandstrand frei das Meer entlangzulaufen und Tauben und Möwen jagen. Und irgendwie hatte man den Eindruck, sie fühlte sich stolz und erwachsen, so als stubenreiner Pudel.

Jetzt ist unsere Geschichte schon so lang und Lola gerade erst stubenrein. Ich muss mich kürzer fassen. Also: wenn sie nicht gerade gegessen, gespielt oder geschlafen hat, hat sie uns beobachtet, im Sitzen, im Liegen, aus den Augenwinkeln, immer. Wir wurden richtiggehend ausgekundschaftet: Wie funktionieren diese Zweibeiner und was muss ich tun, damit ich am schnellsten bekomme, was ich will? Sie war sehr gut darin, der Erfolg blieb ihr nicht verwehrt, so viel sei hier verraten. 

Bellt einer, bellen alle. So will es das Gesetz. 

Sie war der leiseste Hund, den ich kenne. Als sie das erste Mal gebellt hat, war sie fast ein Jahr alt. Wir hatten schon gedacht, sie kann das gar nicht. Wenn sie raus musste, setzte sie sich einfach vor die Tür und schaute uns an. Und wenn wir nicht rechtzeitig reagiert haben, kam sie her und begann zu schmusen. Gebellt hat sie nur, wenn des Nachbars Schäferhund vorbeikam, die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Und im Rudel mit befreundeten Hunden natürlich. Bellt einer, bellen alle. So will es das Gesetz. 

Ähnlich dezent und aufdringlich zugleich agierte sie, wenn sie ein Häppchen essen wollte. Also immer, wirklich immer, wenn wir selber aßen, und am liebsten von dem, was wir selber aßen. Wozu sich anstrengen, wenn man mit sitzen und schauen schneller ans Ziel kommt? Und wenn’s unbedingt sein muss, dann reicht der eine oder andere zärtliche Stupser mit der Pfote.

Natürlich waren da eine Menge Trainerstunden, eine Prüfung, was man halt so macht. Aber im Miteinanderleben brauchten wir kein SitzPlatz oder Steh. Wir lernten einander kennen und miteinander auszukommen. 

Die ersten fünf Jahre war sie jeden Tag mit uns zusammen. Ich arbeitete größtenteils zu Hause, hatte ich einen Termin, nahm ich sie mit. Oder meine Frau nahm sie mit ins Büro. So wuchsen wir im Lauf der Zeit zusammen.

Kleine Alltagsroutinen formten sich. Aus irgendeinem Grund wusste sie genau, wann Frauchens mittäglicher Capuccino fast ausgetrunken war. Dann kam sie und schmeichelte, bis man ihr ein Kügelchen voller Leckerlis warf, das sie mit Begeisterung vor sich herstupste, um die Leckereien aus dem Loch in der Kugel zum Herausfallen zu bewegen. Wenn sie essen wollte und wir uns auf den Weg in die Küche machten, tänzelte sie hinterher, ganz zart bei jedem Schritt das Standbein mit der Nase stupsend. Sie kam in den Morgenstunden ins Bett und legte sich zu uns. Wenn es höchste Zeit war, sie nach draußen zu bringen, schmuste sie uns wach. Und abends auf der Couch lag sie immer eine Zeit lang zwischen unseren Beinen, bevor sie an andere Plätze wanderte. 

In den letzten Jahren, ich arbeitete meist in Wien, verbrachte sie die Wochentage mit meiner Frau. Vormittags geduldig wartend, gegen Mittag aus dem Fenster Ausschau haltend, ob sich der Wagen nähert, nachmittags problemlos im Büro. Wenn sie einen von uns mit dem Auto kommen sah oder hörte, hüpfte und sprang und tanzte sie vor Freude bis sich endlich die Tür öffnete und sie an uns emporspringen konnte. Geht gar nicht, liebe Hundetrainer, ich weiß. War uns aber egal. 

Sie kommt mit Hunden klar, aber Menschen mag sie einfach lieber.

Also zehn Jahre alles eitel Wonne, Sonnenschein? Natürlich nicht. Mit den Temperaturen sinkt auch die Lust, den Hund rauszubringen. Da wir sie am Abend nicht allein lassen wollten, musste jedes Abendessen, jeder Kinobesuch geplant werden. Die Urlaube sowieso. Wo bringen wir sie unter? Oder nehmen wir sie mit?

Und wir lernten eine Menge Tierärzte kennen. Sie hatte Probleme mit den Sehnen, eine Cortison-Infiltration machte sie wochenlang zu einem undichten Pudel. Jetzt war sie es, die Windeln trug, und die blieben weiß Gott nicht ungebraucht. Aber das ging wieder vorbei und war schnell vergessen. Wenn sie mich zu unpassender Zeit und noch unpassenderem Wetter aus dem Bett geholt hat, um sie vor die Tür zu bringen, war der Ärger in dem Moment verflogen, an dem sie begeistert an mir hochhüpfte, sobald ich das Halsband in die Hand nahm. Es war wirklich leicht, ihr eine Freude zu machen. Und wir machten es ihr leicht, uns um den Finger zu wickeln. 

Vertrauen

Sie war eifersüchtig auf andere Hunde. Ich glaube nicht, dass sie sich dabei ihrer wahren Größe bewusst war, so konsequent hat sie jeden anderen Hund von uns weggeknurrt. Wenn wir nicht dabei waren, kam sie mit Hunden aber gut zurecht. Die Leiterin einer Hundepension brachte es einmal auf den Punkt: »Sie kommt mit Hunden klar, aber Menschen mag sie einfach lieber.«

Für jeden ist der eigene Hund etwas Besonderes. Man könnte vermutlich hundert Anekdoten erzählen, die man selbst für einzigartig hält, obwohl sie in der einen oder anderen Form jeder Hundebesitzer ganz ähnlich erlebt. Was Lola tatsächlich besonders machte, war ihr unerschütterliches Vertrauen in die Menschen. Die Ärztin will meine Pfote röntgen? Dann strecke ich sie ihr hin! Die Dame sieht mich freundlich an? Dann zeige ich ihr, dass sie mich streicheln darf (vielleicht fällt ja dabei ein Leckerli für mich ab)! Ihr Vertrauen wurde kein einziges Mal enttäuscht. Es war wohl die Kombination aus unserer bedingungslosen Fürsorge und ihrer grenzenlosen Zuneigung, die das Fundament ihres offenen und zugänglichen Wesens bildete. 

Zehn Jahre sind nichts. Im Juni fiel sie einmal um, ganz kurz. Ein zweites Mal kurz darauf. Diagnose Mitralklappeninsuffizienz, Wasser in der Lunge. Herz- und Entwässerungstabletten als Therapie. Sie reagierte gut darauf, die Lunge war bald wieder frei. Hoffnung. Man kann diese Krankheit nicht heilen, aber – wenn alles gutgeht – stabilisieren. Es ging nicht gut. 

Am Freitag, einen Tag vor ihrem Tod, fiel sie dreimal, jeweils ganz kurz, war aber ansonsten fröhlich und wohlauf wie immer. Wir wollten sie am Beginn der darauffolgenden Woche wieder untersuchen lassen. Dazu kam es nicht mehr. Als ich Samstagmittag vom Markt heimkam – sie wusste, dass es dann immer irgendeine Köstlichkeit gibt, einen Kalbsknochen vielleicht – platzte sie buchstäblich vor Freude. Und dabei ist wohl wirklich irgendwas in ihr geplatzt. Sie fiel um, ich hob sie vorsichtig auf die Couch und sie schrie, wie sie noch nie gejault hatte, danach Wimmern und Stöhnen, Bewusstlosigkeit, es war herzzerreißend. Wir dachten, sie stirbt. 

Doch so schwach ihr kleines Herz auch war, ihr Wille war stärker. Es werden wohl zwei, drei Minuten gewesen sein: sie zwinkerte, öffnete die Augen und stand auf, nur ganz kurz etwas wackelig auf den Beinen. Dann sprang sie von der Couch, ging seelenruhig zu ihrer Schüssel und verspeiste voller Genuss eine Portion Reh. Als ob nichts gewesen wäre. Doch irgendetwas ist gewesen. Am Abend fiel sie um, hatte einen Krampf in den Beinen, konnte nicht mehr aufstehen. Wir hielten sie fest und riefen den Tierarzt. Am Ende würde sie ersticken, lautete die Auskunft. Also brachten wir sie zu ihm, das Ersticken haben wir ihr erspart. 

Sie war uns die beste vorstellbare Gefährtin. Eine Nachfolgerin wird es nicht geben. Es waren besondere Umstände, die uns so eng zusammenwachsen ließen. Das ist nicht wiederholbar und weniger ist nicht erstrebenswert. Nicht nach dieser Erfahrung. Vielleicht können sie jetzt ein wenig nachvollziehen, warum wir um ein Familienmitglied trauern. Auch, wenn es »nur« ein Hund war. Unser Alltag wird jetzt sehr viel einfacher werden. Und doch: Sie können sich nicht vorstellen, wie gern ich zehnmal Kino gegen einmal Kraulen tauschen würde.

Unvergessen

Über den Autor / die Autorin

Thomas M. Eppinger

Thomas Eppinger ist davon überzeugt, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, zu denen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daraus ergab sich alles andere, auch diese Website.
Der Publizist ist 1961 in Vöcklabruck geboren, lebt heute in Graz und arbeitet in Wien als Lead Editor bei »Der Pragmaticus«. Davor leitete er den unabhängigen Nahost-Thinktank Mena-Watch.