Herr Karl und der Impfskandal

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Österreichs Umgang mit Verantwortlichkeit 

»I bin unschuidig, I woa a Opfer«, sagt Herr Karl in dem gleichnamigen Theaterstück von Carl Merz und Helmut Qualtinger über sein Verhalten während des Krieges und damit auch sein Schuldbewusstsein und seine Verantwortlichkeit. Der Satz ist jedem in Erinnerung, der das Stück kennt. Die programmierte, in den Genen deponierte Reaktion der Österreicher/Innen auf jede Kritik, auf jede Anschuldigung. 

Wer weiß schon, warum der Lockdown so lange dauert und immer wieder verlängert wird. Ist es die undisziplinierte Bevölkerung, sind es die gefährlichen Mutationen, das verspätete Zusperren der Geschäfte und Restaurants, die Infektionsrate in den Nachbarländern, die Kurse für Schilehrer in Salzburg, oder die Einschleppung durch illegale Touristen nach Tirol? Nur das Chaos des verspäteten Impfplans ist nicht der Grund. Kein Regierungsmitglied entschuldigte sich bisher, es müsse weitaus länger als geplant zugesperrt bleiben, weil wir zu wenig Impfungen haben.

Denn, was immer auch schief gehen könnte, die Verantwortlichen bieten sehr schnell eine Erklärung: »Die Umstände seien halt schwierig…die Bedingungen hätten sich geändert…man habe ja versucht…aber da seien andere, die unfairer Weise schon längst Entscheidungen getroffen hätten…jetzt könne nichts mehr korrigiert werden…man hätte ja ein paar Ideen…die würden noch geprüft werden…und wenn tatsächlich eine Möglichkeit bestehen würde…dann sicherlich…dann werde man so bald wie möglich…wenn auch nicht gleich…man sei sich ja der Verantwortung bewusst…«, wer eigentlich, fragt sich der auf die Impfung Wartenden. 

Wir vertrauen dennoch den verantwortlichen Politikern/Innen – was bleibt uns anders übrig – die uns Ahnungslosen die Situation einfach und verständlich erklären. Zum Beispiel in einem Interview mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Deutschen Ärzte Zeitung: »Bei der Impfbeschaffung sei im Grunde nichts schief gelaufen…dass andere Länder schneller impfen habe Gründe…die Hersteller hätten deutlich gemacht, wie sie auf höchster Intensität arbeiten, aber auch mit sehr hohem Risiko…bei der Produktion der Vakzine gebe es viele Komponenten…alles müsse Hand in Hand gehen…ein starrer Impfplan sei nicht möglich…aber es gebe ein Gerüst, an dem wir uns orientieren können…das liegt in der Natur der Sache…«

Österreich an 34. Stelle

Ein paar Tatsachen als Denkunterstützung zu den verwirrenden Erklärungen. Letzte Woche lag Österreich weltweit an 34. Stelle bei Impfungen/100 Einwohnern, knapp hinter Deutschland. 29 der 33 Länder in der Reihung vor uns, sind in Europa. Der EU-Durchschnitt liegt bei 4,37 Geimpften je 100 Einwohnern, in Österreich bei 3,77. 

Das bedeutet, dass selbst innerhalb der EU, die ja angeblich, wie man uns versichert, für alle Mitglieder gemeinsam bestellte, durchschnittlich bereits 15 Prozent mehr Personen geimpft sind als in Österreich. In Dänemark doppelt so viele, in Polen und Irland 50 Prozent mehr. Die Gründe kann uns niemand erklären. Interviews mit österreichischen Politikern haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Erklärungen der deutschen Bundeskanzlerin. Zusammenfassend klingen alle Stellungnahmen wie mühsame Versuche, das Scheitern so darzustellen, dass es nicht wie Scheitern klingt. 

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung  befragte die Chefs der wichtigsten Impfstoffhersteller, warum es zu derartigen Verzögerungen in der EU kommen konnte. Sie erklärten, sie hätten der EU bei Vertragsabschluss im November mehr Dosen zur Verfügung gestellt. Die Zurückhaltung der EU-Kommission hätte mehrere Gründe. Einer war, dass die Brüsseler Unterhändler den neuen RNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna misstrauten und kein Risiko eingehen wollten. Ein anderer Grund bestand in den großen Preisdifferenzen. Je Dosis kostet das Moderna-Vakzin 18 Euro, jenes von Biontech-Pfizer 12, für beide sind zwei Impfungen notwendig. Der Astra-Zeneca-Impfstoff kostet dagegen nach Angaben der belgischen Regierung nur 1,76 Euro.

Ein einziger Satz, der hier stutzig macht: »Einer (der Gründe) war, dass Brüsseler Unterhändler den neuen RNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna misstrauten.« Wer waren diese Unterhändler, die einer Impfung misstrauten, von der die USA, UK, Israel und andere Länder Millionen Dosen bereits vor den EU-Verhandlungen bestellt hatten? Was zeichnet sie aus, diese Fachleute, »misstrauisch« sein zu müssen und über die Sicherheit von 450 Millionen Bewohner der EU zu entscheiden? Welche Spezialisten haben hier im Namen der EU verhandelt? Wissenschaftler aus Großbritannien, mit den besten Universitäten in Europa, und der USA, mit den besten der Welt und mehreren Medizin-Nobelpreisträgern, hatten wohl kein Problem, den Impfstoff zu bestellen. Das »Misstrauen« der EU-Bürokraten und deren dilettantisches Verhalten wird einigen Hundert Menschen in der EU das Leben kosten. Die ›Zu-Späte‹ Impfung hat weitaus katastrophalere Folgen als ein verzögerter Lockdown, offene Restaurants, eine illegale Party oder ein Sessellift im Schigebiet, auf dem der Abstand nicht eingehalten wird.

Mahnende Oberlehrer

Doch die Verantwortlichen treten lieber wie mahnende Oberlehrer auf, denunzieren die Bevölkerung als verantwortungslos, die Anordnungen nicht korrekt einhält und wegen ›Disziplinlosigkeit‹ bestraft werden müsse. Da wird mit brachialer Sprache nicht gezögert, wenn es um jene geht, die sich der Einhaltung der Regeln widersetzen, sie ignorieren oder sich irren. Doch das eigene Versagen bezüglich der verspäteten Versorgung mit Impfungen wird stammelnd umschrieben wie von einem Zehnjährigen, der dabei ertappt wurde, nach dem Zähneputzen noch Süßigkeiten zu naschen.

Guy Verhofstadt, Ex-Premier von Belgiens und viele Jahre Vorsitzender der Liberalen im EU-Parlament, warf der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor, die Covid-Katastrophe unverantwortlich zu verlängern: »Das Impf-Chaos nenne ich ein Fiasko, das Menschenleben kosten wird und die Wirtschaft weiter zerstört.«

Die zuständige EU-Kommission (GD SANTE), verantwortlich für diese Katastrophe, verweigerte dem EU-Parlament Einsicht in die mit den Herstellern getroffenen Vereinbarungen. »Die Offenlegung jeglicher vertraulicher Informationen zu diesem Zeitpunkt würde die laufenden Verhandlungen mit den Unternehmen untergraben«, erklärte Kommissarin Stella Kyriakides. Von den Abgeordneten kam scharfe Kritik. Doch die gelernte Psychologin, verantwortlich für den Impfstoff für 450 Millionen Europäern, lehnte jede Verantwortung für die Verzögerung ab. 

Arzneimittelzulassung gehört zur EU-Kommission, die für Lebensmittelsicherheit, Umwelt, Sport und Gesundheit zuständig ist. Neben der von Zypern nominierten Psychologin Stella Kyriakides als Leiterin arbeiten in dieser Monster-Kommission noch drei stellvertretende Direktoren/Innen. Sandra Gallina, von Beruf Übersetzerin, Claire Burg, Juristin, und Pierre Delsaux, ebenfalls Jurist. Kein Mediziner, kein Naturwissenschaftler im Top-Management dieser Kommission. Mit dieser eindrucksvollen, professionellen Vielfalt auf Direktionsebene entscheidet die Kommission über Probleme wie Mikroplastik in Lebensmitteln, Hormone im Tierfutter, Finanzierung von Sportvereinen und – durch die Kontrolle über die Europäische Arzneimittel-Behörde – die Impfstoff-Zulassung, Bestellung und Verteilung in der EU. 

In der Selbstdarstellung der Abteilung für Arzneimittel der Kommission findet sich folgender Satz: 

Die Bewilligung für Medikamente in der Europäischen Union obliegt der zuständigen EU-Behörde für Arzneimittel-Zulassungen oder einer Zulassungs-Behörde in einem Mitgliedsland.

Kein EU-Gesetz, keine EU-Bestimmung und kein Beschluss einer EU-Institution hätte Österreich daran gehindert, Impfstoffe rechtzeitig zu registrieren, zu bestellen und den Preis selbst zu verhandeln. Bei einer vergleichbaren Bevölkerungsgröße wie Israel hätte Österreich bei entsprechender Vorbereitung innerhalb weniger Monate komplett vom Virus befreit werden können.

Zuerst veröffentlicht in NEWS.


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Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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