Russische Invasion ins »Herzland« Ukraine: Geopolitische Implikationen

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»Nein zum Krieg«: Demonstration in Moskau, 24.2.2022 (© IMAGO IMAGES | ITAR-TASS)

Putins militärischer Einfall in die Ukraine ist historisch gesehen eine geopolitische Zäsur – möglicherweise zugleich der Beginn einer neuen globalen sicherheitspolitischen Ära. Wie Herfried Münkler es im Spiegel treffend formulierte, das »Ende der alten Weltordnung«.  

Kaum jemand hatte aktuell einen klassischen Staatenkrieg in der europäischen Peripherie auf dem Schirm. Mit diesem kriegerischen Akt nutzt der Kreml das Sicherheitsvakuum in und rund um Europa, das eng verbunden ist mit dem geostrategischen Rückzug der USA als langjährigem westlichen Ordnungsgaranten.

Die sukzessive sicherheits-und außenpolitische Hinwendung Washingtons zum Pazifik und ein gleichzeitiges transatlantisches De-Commitment der Vereinigten Staaten haben die westliche Sicherheitsarchitektur nachhaltig verändert, wenn nicht ausgehöhlt. Uncle Sam hatte sich in den letzten beiden Jahrzehnten im ›War on Terror‹ stetig überdehnt, sich in mühselige Interventionen und Ermattungskriege manövriert. Bereits von der Obama-Administration wurden jenseits des großen Teichs ein stärkeres Engagement und höhere Investitionen Europas in die eigene Sicherheit eingefordert. Dass diese großräumig ausgeblieben sind, rächt sich nun.

In den Augen der USA hatte man »zu lange die Mahlzeiten zubereitet, währenddessen Europa den Abwasch übernommen hat«, um ein plastisches Bild von Robert Kagan zu zitieren. Es war jahrzehntelang eine ungleiche Arbeitsteilung, dort die harte Macht und hier das weiche (Völker-) Recht. Spätestens seit der Ägide Donald Trump war evident, dass diese ungleiche Form der partnerschaftlichen Kooperation nunmehr zu Ende ist. Vor allem Europa solle aufwachen und von einem kategorischen Konjunktiv zu einem Handlungsimperativ übergehen. 

Strategische Nahtstelle Ukraine

Unverhohlen hatte der Kremlfürst, sich dieser besonderen Umstände sehr wohl bewusst, in der Façon eines Hasardeurs das Nachbarland okkupiert, dessen Unabhängigkeit und strategisches Liebäugeln mit dem Westen Vladimir Putin in alter Sowjet-Manier bereits seit längerem ein Dorn im Auge war. Handelt es sich um eine persönliche Vendetta Putins, die zum Schluss den Ausschlag für das russische Vorgehen gegeben hatte? Möglicherweise. Hatten die Ahnherren der Geopolitik wie Halford Mackinder aber auch der gewiefte Stratege Zbigniew Brzeszinski etwa recht, wenn sie apokalyptisch prophezeiten, dass das Schicksal des Westens respektive des Ostens unverbrüchlich mit dem Gebiet der Ukraine (dem »Herzland«) verwoben sei? Ist die Ukraine das »Schachbrett« (Brzezinski), auf dem zumindest die europäische Sicherheit determiniert wird? Nicht auszuschließen. Sicherlich ist die Ukraine eine geotektonische Nahtstelle von strategischer Relevanz. Unregelmäßige seismographische Bewegungen in der Region können einen sicherheitspolitischen Pendelschlag in jedwede Richtung, sowohl nach Westen als auch Osten, nach sich ziehen.

Putin ist jedenfalls der letzte »Telluriker« – er denkt in obsoleten territorialen Kategorien von Landnahme, Annexion und Okkupation – währenddessen für die Eliten in Washington und Peking das Fluide prägend geworden ist. Letzteren geht es weniger um territoriale Expansion, sondern zuvorderst um eine Kontrolle der Ströme (Kapital, Waren, Daten, Rohstoffe und nicht zuletzt auch Menschen – im Sinne von Migrationsbewegungen).

Die gewaltsame Inbesitznahme der Ukraine wird vielerorts als ein letztes Aufraffen einer Macht in der Dekadenz begriffen. Denn die offenkundigen fortschreitenden inneren Zerfallserscheinungen und Auflösungstendenzen in Russland, der persönliche (Gesundheits-?)Zustand des kalten Kriegers Putin und die propagierte Erzählung, dass eine geopolitische Expansion des Westens (gleichermaßen ebenso in Form einer Einflusssphäre) ins Kernland der ehemaligen Sowjetunion ein Sargnagel für etwaige imperiale Träume Russlands seien, ergeben in Summe eine toxische Kombination.

Russland kämpft nur mehr um Rang drei

Hinzu kommt die geradezu paranoide Obsession der »Siloviki«-Clique von Ex-KGB-lern um Putin, Russland sei von der NATO eingekreist, die im Westen gelinde gesagt auf Kopfschütteln stößt. Darüber hinaus wird suggeriert, dass dieser gezielten »Provokation« und Machtbeschneidung durch den Westen vehement und gegebenenfalls mit Waffengewalt entgegenzutreten sei. Der deutsche Historiker Karl Schlögel hat erst kürzlich festgestellt, dass Putins Geschichtsnarrativ »bloß Ornament« sei. Vielmehr geht es um nüchterne, imperiale Machtpolitik, Prestige und Satisfaktion.

Wahr ist auch, dass Moskau im neuen fluiden Great Game allenfalls eine subsidiäre Rolle zuzukommen scheint. Obamas Klassifikation Russlands als Regionalmacht war die ultimative Beleidigung für den machtbewussten Kreml-Herrscher, der für sein Land, aber vor allem für sich einen Platz an der Sonne beansprucht. Zu Unrecht, denn gemäß dem vierpoligen IEMP-Machtsortenmodell von Michael Mann verfügt Russland bloß über ausreichend militärische Macht, um von den USA und China als ernstzunehmender Mittbewerber um die globale Vormachtstellung anerkannt zu werden. Weder ökonomisch, noch politisch und schon gar nicht ideologisch kann Moskau in dieser geopolitischen Liga mithalten. Die unverstellte Realität sieht eben anders aus und Putin scheint dies insgeheim zu wissen.

Russland ist weltpolitisch allenfalls höchstens Mitstreiter um Rang drei mit Europa und Indien. Alles bereitet sich indes auf eine neue, sich abzeichnende Bipolarität USA vs. China vor. Ohne Russland oder mit Russland als Bündnispartner Chinas. Am liebsten, so der Eindruck, möchten der Weißkopfadler und der Drache den russischen Bären in dieser Konfrontation abschütteln, der eher als Klotz am Bein wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund erscheint das knallharte Agieren des Kremls auf dem geopolitischen Schachbrett durchaus nachvollziehbar, wenn auch nicht gerechtfertigt. Die Ukraine ist Geisel und Spielball zugleich. Ein Faustpfand, dessen Wert mit Fortschreiten des aktuellen Konflikts ins Unermessliche steigen könnte. 

Von der Entfremdung zum Krieg

Ehrlicherweise muss man eingestehen, dass kaum jemand aus dem sicherheitspolitischen Establishment, weder Thinktanks noch Analytiker, geschweige denn Politiker, präzise vorausgesagt hat, wie sehr sich die Lage in der Ukraine zuspitzen würde, und wie unverhohlen Putin seinen Machtanspruch militärisch unterstreichen würde. Die fortschreitende Entfremdung zwischen dem Westen und Russland hatte brüsk in einen veritablen Konfrontationsmodus inklusive Kriegsszenario umgeschlagen. Gleichzeitig hatte die Mehrzahl der geschulten Beobachter entsprechende Signale nicht wahrgenommen, wie etwa den kontinuierlichen Aufbau an harten Währungsreserven seitens Russlands. 

Die meisten westlichen Experten-Prognosen im Vorfeld des russischen Angriffs erwiesen sich im Nachhinein als vollkommen falsch. Zu sehr ließ man sich von der komfortablen Annahme blenden, der »Zar« im Kreml sei ein rationaler, strategisch agierender Akteur, zumindest aber als Judoka und ehemaliger KGB-Agent ein kühler Taktiker. Betrachtet man sein militärisches Agieren in vergangenen Konflikten, ist sein Kalkül im gegenständlichen Fall wenig nachvollziehbar. Man könnte meinen, er habe im Vorfeld der militärischen Intervention bereits seine Hauptziele – Prestige und Anerkennung als ebenbürtiger Konkurrent um globale Macht – erreicht. Zudem zeigte der Westen Gesprächsbereitschaft, was eine mögliche Vereinbarung zu einer langfristigen Bündnisfreiheit der Ukraine betrifft.

Wozu das Ganze?

Alle Welt fragt sich also »wozu das Ganze?« und „was soll das?“. Selbstverständlich könnte man argumentieren, der Augenblick des Angriffs sei für Russland günstig gewesen, zumal der Westen, insbesondere Europa, sich seit geraumer Zeit in einer Art strategischem Selbstfindungsprozess befindet. Daher war mit keiner nennenswerten militärischen Gegenreaktion der internationalen, westlichen Staatengemeinschaft zu rechnen. Mit wirtschaftlichen Sanktionen weiß man in Moskau inzwischen umzugehen, wenngleich die aktuellen besonders schwerwiegend sind.

Umgekehrt ist man vor allem in Brüssel, aber zum Teil auch in Washington, angesichts der Vehemenz und Brutalität dieses Angriffs in eine Schockstarre aber mindestens in Lethargie verfallen. Ernüchterung und Ratlosigkeit haben sich breit gemacht. Putin hat die Geister des 20. Jahrhunderts heraufbeschworen. Jahrzehnte nach dem letzten Waffengang in Europa, den Zerfallskriegen am Balkan und deren Spin-Off rund um den Kosovo hatte niemand mehr mit einem klassischen Staatenkrieg gerechnet. An der Außengrenze Europas zumal. Mit Panzern, schwerer Artillerie und Luftschlägen.

Auch den nuklearen Joker hat Putin ins Spiel gebracht. Er hat die Büchse der Pandora des kriegerischen Repertoires aus überwunden geglaubten Zeiten geöffnet. Man spekulierte auf hybride Konflikte, Cyberangriffe aber nicht auf rollende Panzer in Kiew. Daher darf es getrost als unangenehme Wahrheit betrachtet werden, dass die alte Klamottenkiste Krieg, die wir am liebsten bereits der Vergangenheit oder anderen Regionen der Welt anheimstellen mochten, nun wieder vor unserer Haustüre steht. In Form eines skrupellosen Überfalls auf einen souveränen Staat. Die Vereinten Nationen werden mangels Beschlussfähigkeit im Sicherheitsrat ebenso wie das Völkerrecht mangels Sanktionsmöglichkeit angesichts dieser Usurpation leider ein zahnloses Instrument bleiben. 

Der Westen ist in der strategischen Zwickmühle: zu viel Beistand oder gar eine militärische Intervention zugunsten der Ukraine könnte die Eskalationsspirale weiter vorantreiben und einen Flächenbrand auslösen. Zu sehr fürchtet man eine Kurzschlussaktion des Kremls, die eine Anwendung von Nuklearwaffen beinhalten könnte. Geht man spieltheoretisch von der Mad-Man-Theorie in Bezug auf Putins atomare Drohgebärden aus, ist dieses Szenario durchaus zwar denkbar, aber nicht wahrscheinlich. Daher ist der Westen im Sinne einer Risikominimierung dazu genötigt, sein Engagement auf eine stille Unterstützung und harte wirtschaftliche Sanktionen zu limitieren.  

So ist die Ukraine im dramatischen Kampf gegen den Aggressor bis zum bitteren Ende mutterseelenallein auf sich gestellt. Eine wahre menschliche Tragödie verbunden mit großem Leid in der Zivilbevölkerung und enormen Verlusten auf dem Schlachtfeld. Putin, so hat es momentan den Anschein, wird bis zum Letzten gehen. Wie ein abgebrühter Pokerspieler wird er mit der Gewissheit der prinzipiellen Überlegenheit seiner Streitkräfte den Einsatz kontinuierlich in die Höhe treiben. Bis er – dem heroischen Widerstand der Ukrainer zum Trotz – den Sieg auf Biegen und Brechen erzwingt. Entweder auf dem Schlachtfeld oder dem Verhandlungstisch.

Im Krieg geht es immer um ein Kosten-Nutzen-Kalkül, um Einsätze und Risiken, die es zu minimieren gilt. Nicht bloß Geld oder Blutzoll, sondern auch Glaubwürdigkeit und Prestige stehen kostenseitig auf dem Spiel. Auch Russland, so viel steht unumwunden fest, wird auf allen Ebenen verlieren, selbst, wenn es die Ukraine militärisch bezwingen sollte. International ist Russland bereits jetzt zum Paria geworden, dem jedwede außenpolitische Legitimität und Glaubwürdigkeit abhanden gekommen sind. Nicht bloß die finanzielle Kreditwürdigkeit des Landes, die von internationalen Ratingagenturen soeben auf »Ramschniveau« herabgestuft worden ist, auch die politische ist durch die gegenwärtige Vorgehensweise verspielt.

Rien ne va plus, Monsieur Putin!

Nicolas Stockhammer

Möglicherweise wird die Ukraine als autonomer, souveräner Staat von der Landkarte verschwinden Aber ebenso dürften die machterfüllten Tage des politischen Anführers im Kreml und seiner loyalen Entourage gezählt sein, zumal der Westen mit seinen drakonischen Sanktionen auf einen Regime-Change in Russland abzielt. Rien ne va plus, Monsieur Putin! Für ihn könnte dies in mehrfacher Hinsicht der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere sein.

Denn der russische Präsident steht inzwischen praktisch isoliert da – zwischen den Stühlen der Geopolitik. Eine persona non grata im internationalen Geschäft, für viele auf einer Stufe mit verbrecherischen Figuren wie Saddam Hussein, Slobodan Milosevic und Muammar al-Gaddafi die man am liebsten los werden möchte. Ernstzunehmende Feinde auf dem politischen Parkett hat Putin ja genug, nicht zuletzt im Inneren.

Wie man sich eines Machthabers, im Idealfall gewaltfrei, entledigen kann? Hier kennt die Phantasie keine Grenzen. Schließlich gibt es zahlreiche Beispiele für derartige Volten in der Welthistorie. Vielleicht gesichtswahrend in Form eines konzertierten Rückzuges von seinen Amtsgeschäften »aus gesundheitlichen Gründen«? Vorstellbar wäre zudem ein internationales Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag. Oder sogar eine von Vladimir Putin stets so gefürchtete Farbenrevolution, ein »Russischer Frühling«.  Wer kann das schon ahnen. 


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Über den Autor / die Autorin

Nicolas Stockhammer

Dr. Nicolas Stockhammer, geb. 1975 in Wien, ist Politikwissenschaftler mit Fokus auf Sicherheitspolitik (Extremismus- und Terrorismusforschung). Seit Juli 2021 obliegt ihm die wissenschaftliche Leitung und Koordination des Research Clusters »Counter-Terrorism, CVE (Countering Violent Extremism) and Intelligence« an der Donau-Universität Krems.
Diverse Publikationen in internationalen Printmedien und wissenschaftlichen Journalen. Zuletzt Al-Qaida – 20 Jahre danach: Zwischen Abdriften in die Bedeutungslosigkeit, systemischer Konsolidierung und strategischer Resilienz, in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies (JIPSS) VOL.15, NR.2/2021, S.112-122. Sowie zusammen mit Peter R. Neumann „Vorläufige Lektionen vom Terror in Wien“, EICTP Policy Brief, Vol. 1 / Februar 2021. Mit Stefan Goertz „Corona-Maßnahmen-Gegner. Rezente Akteure, Ideologieelemente und ihr stochastisches Gewaltpotenzial“, EICTP Expert Paper, Dezember 2021. Zahlreiche nationale wie internationale Medienauftritte zu Fragen des transnationalen Terrorismus, des Extremismus und politisch motivierter Gewalt.