ROSH HASHANAH 2017

R

Photo: Arthur Szyk, CC BY-SA 4.0

Hab’ ich Ihnen vergessen zu erzählen…

Am 20. September beginnt das neue jüdische Jahr und bezieht sich auf die Erschaffung von Adam und Eva, sozusagen die ‚Vermenschlichung’ der Welt Gottes.

Es wäre kein echter Rabbiner, wenn einer nicht auch während des Festes in der Synagoge zwischen den Gebeten ein paar Geschichten erzählte. Hier eine der Unterbrechungen des Rabbiners in Chicago 2016 während des Neujahr Gottesdienstes:

»Ich wohne hier in Chicago in einem Apartment-Block, etwa fünf Minuten vom Tempel, so dass ich auch im Winter keinen Fehler zu Shabbat mache und zu Fuß herkomme und wieder nach Hause gehe.

Im gleichen Stock, mir gegenüber, lebt eine Familie mit zwei Kindern. Der Mann etwa 40, die Frau vielleicht etwas jünger, die beiden Kinder so um die zehn Jahre alt. Ich sehe den Mann am Morgen, wenn ich zum Gebet herkomme, ich sehe ihn am Abend und am Wochenende, und jedes Mal denke ich mir, der ist sicher ein Jude.

Da es zu meinen Pflichten gehört, Juden zu betreuen und ihnen meine Hilfe anzubieten, dachte ich mir, vielleicht lade ich ihn einmal zu Shabbat ein. Es kam nie dazu, wer weiß schon aus welchen Gründen, so entschloss ich mich, ihn diesmal zu Rosh Hashana einzuladen. Heute früh wartete ich hinter meiner Eingangstür bis ich ihn hörte, verließ meine Wohnung, wir beide gingen zum Lift und warteten.

Entschuldigen Sie die Frage, sind Sie vielleicht Jude? Fragte ich ihn.

Er schüttelte verärgert den Kopf und antwortete: »Ich habe schon befürchtet, dass Sie mich das einmal fragen. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich bin nicht religiös und der ganze Zirkus in der Synagoge interessiert mich nicht. Es tut mir leid, ich möchte Sie nicht beleidigen, aber…«

Sie beleidigen mich nicht, unterbrach ich ihn. Das ist Ihre freie Entscheidung. Religion ist keine Verpflichtung und Jude sind Sie auch, wenn Sie nicht religiös sind.

»Das bezweifle ich«, sagte er mürrisch.

Wir schwiegen, bis der Lift kam, die Tür öffnete sich und wir traten ein.

Sie könnten ja einmal zu Shabbat zu uns kommen, nehmen Sie es einfach als eine Einladung zum Abendessen, sagte ich im Lift.

»Tut mir leid, das geht nicht, Freitag abend ist unsere Pokerrunde«, antwortete er und grinste.

Zumindest wissen Sie, dass Freitag abend Shabbat ist, antwortete ich ihm. Und? Spielen Sie jeden Freitag Poker?

»Ja, jeden Freitag!«

Dann kommen Sie doch heute Abend zu Rosh Hashana mit ihrer Familie, das wird auch interessant für Ihre Kinder!

»Rosh Hashana gibt’s bei uns eine Schweinshaxe, die hol ich frisch gebraten von unserem Fleischer. Sie können sich nicht vorstellen, wie knusprig die ist.«

Wieder grinste er. Wir erreichten das Erdgeschoss und verließen den Lift.

Entschuldigen Sie, noch eine Frage, sagte ich zu ihm und hielt ihn zurück. Er wollte zur Garage.

Wirklich? Jeden Freitag Abend spielen sie Poker und jedes Jahr zu Neujahr essen Sie eine Schweinshaxe?

Er nickte und sagte: »Wie Sie sehen, bin ich für die Religion nicht geeignet. Die ganzen Einschränkungen passen mir einfach nicht. Ich habe absolut nichts mehr mit dem Judentum zu tun. Meine Eltern waren religiös. Mir ging das derartig auf die Nerven, dass ich mir schwor als ich auszog, nie wieder einen jüdischen Festtag zu feiern. Und an einen Gott glaube ich schon gar nicht.«

Wie ich schon sagte, ich verurteile Sie sind, antwortete ich ihm. Das ist ihre Entscheidung, es ging ja nur um eine Einladung von einem Nachbar zum anderen.

»Ich kann mir das schon vorstellen«, sagte er und seine Stimme wurde lauter. »Zuerst ist es nur ein Abendessen mit Gebeten, dann ein paar Erklärungen über das Fest für meine Kinder und so weiter und so weiter. Nach ein paar Stunden haben sie uns so weit, dass wir den Haushalt auf koscher umstellen und meine Frau mir am Samstag das Fernsehen verbietet.«

Ich musste lachen, er hatte zumindest Humor. Wir standen in der Halle. Keiner wollte plötzlich zur Garage. Irgendwie waren wir noch nicht fertig.

Ist ihre Frau Jüdin? Fragte ich ihn.

»Ja, aber die denkt so wie ich. Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Ich respektiere die Religiösen, aber die sollten auch mich in Ruhe lassen.«

Keine Angst, ich werde sie nicht weiter bedrängen. Aber eines geht mir nicht aus dem Sinn, sagte ich, trat einen Schritt zurück, strich über meinen Bart und tat so, als würde ich nachdenken.

»Und?« Fragte er jetzt ungeduldig

Sie spielen jeden Freitag Poker und essen jedes Jahr zu Rosh Hashana einen knusprigen Schweinsbraten. Im Grunde genommen sind Sie ein traditioneller Jude wie ich, nur feiern Sie die Festtage auf eine unkonventionelle Art und Weise, und ich auf eine mehr konventionelle.

Jetzt lachte er laut auf, drehte sich um und ging zur Garage. Ich folgte ihm, er ging zu seinem Wagen, ich zu meinem und hörte ihn immer noch lachen.«

Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

Curriculum Vitae

Publications

1 comment

  • Religion wurde geboren, als der erste Gauner, den erste Dummen antraf.
    Was war vor der Erfindung der Religionen????
    Die beste aller möglichen Welten ist eine Welt ohne Religionen.
    Wenn ein Christ wirklich kritisch ist, ist er kein Christ mehr.
    Er müsste ja alles über Bord werfen, was er glaubt, was ihm vorgeschrieben wird zu glauben.
    Viele Christen wären gewiss sehr betrübt darüber, wenn man jetzt eine neue älteste Handschrift
    eines der Evangelien finden würde, bei der am Anfang geschrieben stünde: Eine Komödie.