DIE NAZIFIZIERUNG

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Alles Nazi oder was?

Mit dem Ergebnis der Wahl in Deutschland setzt sich eine Diskussion fort, die mit der Gründung der AfD begann und bisher zu keinem einwandfreien, überzeugenden Ergebnis kam:

Sind die Anhänger und Funktionäre der AfD Nazis oder nicht?

Die Etikettierung ist deshalb so schwer, weil im Gegensatz zu anderen ideologischen Uniformen, in die man schlüpfen kann, der Begriff Nazi und die damit verbundenen Ansichten und Meinungen kreuz und quer definiert und beschrieben werden, außer – man reduziert ihn auf das, was er einmal war – die Mitgliedschaft bei der NSDAP.

Seit der Schrift von Joseph Goebbels (1927) Der Nazi-Sozi, Fragen und Antworten für den Nationalsozialisten, benutzten die Anhänger Hitlers die Bezeichnung auch intern. Ursprünglich nannten sie sich Naso, was jedoch angeblich in Bayern nicht so gut ankam, und änderten es später auf Initiative des Journalisten Konrad Heiden auf Nazi.

Das Wort ist allerdings älter als die Partei der Nationalsozialisten und war ursprünglich eine Koseform für den Vornamen Ignaz. In dem Lustspiel Der Schusternazi von Ludwig Thomas, 1905 in München uraufgeführt, ist der Begriff ein Symbol für eine dümmliche, einfältige Person.

Nach 1945 kam es vor allem in nicht-deutschsprachigen Ländern zu einer inflationären Verwässerung des Begriffs. Jede Form von Fanatismus und jeder Fanatiker konnte schnell in allen möglichen Wort-Kombinationen zum Nazi werden. So gab es die tabacco nazis, damit wurden die leidenschaftlichen Raucher erfasst, oder ein jazz nazi, der nicht nur seine eigene Musik liebt, sondern ausgesprochen intolerant gegenüber anderen Musikern ist. In Russland gab es 2015 eine Diskussion in den Medien, ob man zu jenen, die in den flüchtigen Social Media neurotisch auf Einhaltung aller sprachlichen Regeln bestehen, grammar nazi sagen dürfe. Und kein Seinfeld-Fan, der nicht über den soup-nazi gelacht hätte.

Der Begriff Nazismus entstand erst nach der Zeit des Nationalsozialismus. Bei der Trauerfeier im Konzentrationslager Buchenwald schworen am 19. April 1945 die 21.000 Überlebenden Die Vernichtung des Nazismus, lösten sich damit sprachlich wahrscheinlich zum ersten Mal vom Begriff des Nationalsozialismus und assoziierten die Ideologie und die Anhängerschaft mit dem Wort Nazi.

Begrifflichkeiten

Löst man sich vom lexikalischen Wissen und dem Suchen nach Zitaten und Definitionen im Internet, so bleibt die Erwartungshaltung an die Umgangssprache, dass mit dem Begriff Nazi eine eindeutige Identifizierung einer Geisteshaltung gewährleistet wird – das tut es aber nicht. Es scheitert schon daran, dass es heute keine politische Partei, Parteianhänger oder Parteifunktionäre gibt, die sich selbst als Nazis bezeichnen würden. Also kommt der Begriff immer nur von außen und ist auch immer nur negativ.

Wenn es auch bis heute Kommunisten und Anti-Kommunisten gibt, in Italien eine Neo-Faschistische Partei einst Erfolg hatte und der Anti-Faschismus ein Symbol des Widerstandes sowohl gegen Faschismus als auch Nationalsozialismus ist, existiert heute keine Partei, die das Wort Nazi in irgendeiner sprachlichen Form integriert.

Aus der Mitgliedschaft einer Partei wurde ein auf historische Ereignisse bezugnehmendes Schimpfwort, das eine gewisse Empörung auslösen soll – im Grunde genommen ist es eine Form der Provokation. Die inflationäre Benutzung des Begriffs macht es allerdings den Objekten des Angriffs leicht, durch einen Vergleich mit der Realität des Nationalsozialismus nachzuweisen, dass der Begriff nicht zur Dramatisierung ihres Verhaltens führt, sondern zur Relativierung und Verharmlosung der Verbrechen der Nationalsozialisten.

In diesem Sinne scheitern die Benutzer des Wortes gleich zweimal: Erstens schaffen sie es nicht, durch eine Verbindung zu der Ideologie und den Verbrechen der Nazis Wähler davon abzuhalten, diese Parteien zu wählen. Und zweitens bieten sie den Betroffenen die Möglichkeit, den oft berechtigten Angriffen auszuweichen, in dem diese darauf verweisen, dass mit der Beschimpfung Nazi die Verbrechen der Nationalsozialisten verharmlost werden.

Argumentativ dreht sich der Angriff und richtet sich gegen den Angreifer wie der Rückstoß eines Gewehrs. Am Ende verharmlost der Antifaschist die Verbrechen der Nationalsozialisten, weil er sie in einer Auseinandersetzung benutzt, ohne die historischen Realitäten zu berücksichtigen. Karen Schönwälder vom Max Planck Institut hat das mit einfachen Worten zusammengefasst:

Jeder Nazi ist ein Rassist, aber nicht jeder Rassist ein Nazi.

Karen Schönwälder

Sprachlosigkeit

Die moderne Demokratie scheint überfordert, für neuzeitliche rassistische und undemokratische Bewegungen entsprechende Begriffe zu finden. Es reagiert die Gesellschaft wie in einem Schockzustand, in dem einem Die Worte fehlen, klammert sich an historische Ereignisse, die aber dann doch nicht stimmen und stottert sich fast sprachlos durch die Wirklichkeit.

Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle und was sich sonst noch gebildet nennt, finden nicht nur inhaltlich keine Antworten auf den Erfolg der neuen politischen Bewegungen, sondern es fehlt auch die richtige Sprache, um dieses unerwartete Phänomen der Demokratie zu erfassen.

Man windet sich vom Rechts-Extremen zum Rechts-Populisten, manchmal ist es faschistoid, dann wieder typisch für Nazis, alles stimmt nur zum Teil und beschreibt höchstens Symptome, reduziert sich auf Einzelheiten und erfasst diese Bewegungen nicht.

Doch die fehlende Sprache ist nur ein Spiegelbild der inneren Ratlosigkeit. Wenn nicht-demokratische Parteien die Mittel der Demokratie benutzen können, um bei demokratischen Wahlen erfolgreich zu sein und andere Gruppen dies als gefährlichen Angriff gegen das politische System erleben, muss eine Strategie gegen diese Bedrohung entwickelt werden, die sich nicht allein an der Vergangenheit orientiert.

Letzen Endes geht es in der Demokratie um Wähler, ihr Wahlverhalten und ihre Motive, warum sie eine Partei wählen. Will man dieses Wahlverhalten beeinflussen, wird einem mehr einfallen müssen, als jene, die gewählt wurden, als Nazis zu bezeichnen. Diese Drohung hat schon während des Wahlkampfs nicht funktioniert und niemanden erschreckt. Da diese Methode nicht überzeugend war, sollte sie schnellstens aufgegeben werden.

Es werden in den kommenden Jahren jene Parteien erfolgreich sein, die den Wählern der sogenannten Nazi-Parteien eine überzeugende Alternative bieten und deren Wahlverhalten ändern – und bei der Entwicklung dieser Alternativen darauf verzichten, in der Geschichte herumzukramen.

Über den Autor / die Autorin

Peter Sichrovsky

Klassische Dilettanten-Karriere, wenig von viel und viel von wenig zu wissen, zu können, nach Studium der Chemie Marketing in Pharmaindustrie, dann Journalist, Schriftsteller, Mit-Gründer des Standards, SZ/Stern Korrespondent in Asien, EU-Parlamentarier, die letzten zehn Jahre Industrie-Karriere in Süd-Ost-Asien, 23 mal übersiedelt und nach Wien, Berlin, New York, München, New Delhi, Singapur, Hong Kong, Manila, Los Angeles und Brüssel in Chicago gelandet. Seit September 2017 lebt Peter Sichrovsky in London.

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3 comments

  • Wenn Sie andere Quellen haben, nehme ich das gerne zur Kenntnis, berühmt und bekannt wurde der Begriff durch die Feier in Buchewald.

  • Bitte, der Begriff Nazismus wurde im Widerstand soweit ich mich erinnere spätestens ab 1943 verwendet – wenn ich nicht irre auch in der Literatur in London.

  • Jeder Nazi ist ein Rassist, aber nicht jeder Rassist ein Nazi.
    Aber jeder Patriot wird als Rassist beschimpft.
    Patriotismus besteht nicht im Hasse gegen andere Völker, sondern in Liebe zum eigenen.